Chronik Werra Meißner Kreis

Von der„Schnittstelle der Systeme“ in die Mitte Europas Autoren: Werner Keller / Matthias Roeper Eine Meldung, die am 17. August 1989 über die Ticker der großen Nachrichtenagenturen lief, irritierte vor 35 Jahren Sicherheitsbehörden und Politiker gleichermaßen: Von hessischem Boden aus waren 90 Schüsse über die Werra auf die DDR-Gemeinde Wahlhausen abgegeben worden. Niemand konnte sich erklären, ob es sich um einen Anschlag oder um einen Dumme-Jungen-Streich handelte. Die DDRMedien schlachteten das Ereignis weidlich aus, denn in der sich verschärfenden Staatskrise kam den Verantwortlichen in der DDR dieser Zwischenfall, als „westdeutsche Provokation“ deklariert, höchst gelegen. Der Vorfall wurde übrigens nie aufgeklärt und die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass die Schüsse von der DDR-Staatssicherheit inszeniert wurden, um von den akuten innenpolitischen Problemen im östlichen Teil Deutschlands abzulenken. Die Schüsse von Wahlhausen wurden zu einer Fußnote der großen Geschichte und stehen fast schon symbolisch für das Schlusskapitel der deutschen Teilung, die die Menschen im Werra-Meißner-Kreis so lange von ihren thüringischen Nachbarn getrennt hatte. In den Kreisen und Städten jenseits des Eisernen Vorhangs nahm der „Druck im Kessel“ während des gesamten Jahres 1989 immer mehr zu – überall begannen die Menschen aufzubegehren und waren nicht mehr bereit, die SED-Diktatur widerspruchslos hinzunehmen. In der gesamten Region zwischen Heiligenstadt, Mühlhausen und Eisenach begannen sich Umwelt-Aktivisten und kirchliche Gruppen zu organisieren und wurden zu Keimzellen einer immer größer werdenden Reformbewegung. Als in Leipzig und Ostberlin Zehntausende auf die Straße gingen, demonstrierten auch die Menschen in Heiligenstadt und Mühlhausen. Es kam der 9. November 1989: Nach der legendären Pressekonferenz des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski in Ostberlin zur Reisefreiheit setzte nicht nur ein Ansturm auf die Sektorengrenze in Berlin ein, sondern auch auf den einzigen hessischen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Um Mitternacht brachte das HR-Fernsehen bereits Bilder von Trabi-Kolonnen, die sich in Richtung Eisenach zurückstauten. Am darauffolgenden Freitag herrschte in Eschwege der Ausnahmezustand: Überall strömten Besucher aus der DDR in Kaufhäuser und Geschäfte, Stadtverwaltung und Banken organisierten die Auszahlung des Begrüßungsgeldes: Einhundert D-Mark pro Kopf waren viel Geld für Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands. Überall gab es Hilfsbereitschaft ohne Grenzen, Privatleute reichten Kaffee und Kuchen, die Kirchengemeinden richteten in aller Eile Verpflegungsstationen ein, um die zahllosen Gäste zu versorgen. Während es in den meisten anderen Orten des Kreises noch ruhig blieb, herrschte in der Kreisstadt am Abend des 11. November bereits eine Art Volksfeststimmung: Die Menschenmassen aus dem Osten strömten durch die Einkaufsstraßen und alle gemeinsam bejubelten das Ende der unmenschlichen Grenze. Der Zaun bekommt Löcher 12. November 1989: Mitten in der Nacht rückten bei Hohengandern im Norden und Wanfried im Süden Arbeitskommandos an. Zunächst waren nur punktförmig die Scheinwerfer von Baufahrzeugen zu erkennen, die sich Meter für Meter nach Westen vorarbeiteten. Es galt, binnen 65 07

RkJQdWJsaXNoZXIy MTcxNzc3MQ==