Selbst Eitel O. Höhne, der ehemalige Eschweger und seit dem 5. Juni 1974 erste Landrat des Werra-Meißner-Kreises konnte eine gewisse Skepsis nicht verhehlen. „Wir werden es alle“, so prophezeite er während des Prozesses der Kreisfindung, „miteinander schwer haben.“ Er sollte Recht behalten. Wie groß die Vorbehalte gegen die neuen Strukturen allenthalben waren, dokumentierten die ersten Kommunalwahlen, die nach vollzogener Gebietsreform am 24. März 1974 stattfanden. Die bis dato in beiden Altkreisen unangefochten allein regierende SPD büßte über 12 % der Stimmen ein und verlor im neuen Kreistag die absolute Mehrheit. Wenn die Sprecher aller Parteien laut HNA vom 25. März unisono „… landes- und bundespolitische Themen für das Abschneiden“ ihrer Partei bei der Wahl verantwortlich machten, war das zwar ein wenig schwammig formuliert, traf aber, zumindest teilweise, den Kern der Sache. Der Blick auf die Einzelergebnisse zeigt nämlich ganz deutlich, dass das wahlentscheidende „landespolitische Thema“ ohne wenn und aber die Gebietsreform war und die SPD in denjenigen Städten und Gemeinden am meisten verloren hatte, in denen die neuen Strukturen besonders kritisch gesehen wurden und erheblicher Unmut über die Ziehung der neuen Großgemeindegrenzen herrschte. Die Sozialdemokraten, von der Bevölkerung als „Partei der Gebietsreform“ wahrgenommen, wurden demnach bei dieser Wahl für die Reform an sich, alle damit verbundenen tatsächlichen Unzulänglichkeiten und – was fast noch schwerwiegender war – auch alle gefühlten Ungerechtigkeiten de facto verantwortlich gemacht und deshalb per Stimmzettel abgestraft. Wie sehr dieser Verdruss selbst bis weit in die Reihen sozialdemokratischer Parteimitglieder reichte, zeigt das doch recht bittere Fazit Armin Eulers, der als einer der profiliertesten Kommunalpolitiker der Region lange Jahre erst dem Witzenhäuser Kreistag und dann von 1974–1997 dem Kreistag des WerraMeißner-Kreises angehörte. Euler kritisierte das gesamte Prozedere der Reform grundsätzlich und rügte noch Ende der 90er Jahre die dadurch seiner Meinung nach entstandene bürgerferne Verwaltung: „Die schönen Worte und Versprechungen über eine bürgernahe Verwaltung sind vergessen. Die Verwaltungen sind größer und undurchsichtiger geworden. Die Gesetze und Verordnungen werden immer komplizierter, so dass der normale Bürger sie nicht mehr versteht. Ohne Rechtsberater kommt kaum noch eine Verwaltung aus. Der Mensch ist in den Hintergrund getreten. Das Vertrauen in den Staat nimmt erschreckend ab. Die kommunale Selbstverwaltung findet zum Teil nur noch auf dem Papier statt.“ 241 Den nunmehr noch dreißig Mandaten der SPD standen im ersten Kreistag des neuen Großkreises deren 26 der CDU und fünf der F.D.P. gegenüber. Zur konstituierenden Sitzung des neuen Parlamentes traf man sich am 2. Mai 1974 in Bad Sooden-Allendorf – der Ort war mit Bedacht gewählt, lag er doch fast genau in der Mitte zwischen den beiden„alten“ Kreisstädten Eschwege und Witzenhausen und sollte das künftige Miteinander der beiden Altkreise auch räumlich demonstrieren. Das Bemühen, die durch die Gebietsreform aufgerissenen Gräben wieder zu schließen, zog sich nicht nur durch diese Sitzung, sondern war politische Leitlinie des am 5. Juni in Eschwege mit den Stimmen von SPD und F.D.P. zum Landrat gewählten Sozialdemokraten Eitel O. Höhne (1922–1998), der schon am 2. Mai die Abgeordneten dazu aufrief, in diesem neuen Parlament auch über politische Gegensätze hinaus zusammenzustehen, Konfrontationen zu vermeiden, um am Beginn der durch die gebietliche Neugliederung geschaffenen Legislaturperiode die gestellten Aufgaben meistern zu können. In das Amt des Kreistagsvorsitzenden wählten die Abgeordneten am 2. Mai den Sozialdemokraten Horst Römisch aus Hess. Lichtenau und zum hauptamtlichen ersten Beigeordneten und stellvertretenden Landrat am 5. Juni Theodor Leyhe (F.D.P.). Mit dieser Wahl begann die politische Ehe zwischen Sozial- und Freidemokraten, die bis zur Kommunalwahl 2011 Bestand haben sollte. Hautnah miterlebt hat diese Epoche der Kreisgeschichte auch Erika Wagner (1922–2011), die seit 1960 für die SPD erst dem Eschweger Kreistag und dann von 1974–2001 dem Kreistag des Werra-Meißner-Kreises angehörte, seit 1997 als dessen Vorsitzende. Auch sie verhehlt in ihren Erinnerungen nicht, wie problembeladen der Start des neuen Kreises letztendlich vonstatten ging. „Mit der Kommunalwahl am 24. März 1974“, erinnert sie sich ein Vierteljahrhundert später, „wurde ein Schlussstrich unter die sehr strittige Diskussion über die vom Land Hessen „verordnete“ Gebietsreform gezogen. (…)“ Die Sozialdemokraten, die bis dahin im Landkreis Eschwege und im Landkreis Witzenhausen die absolute Mehrheit der Sitze hatten, mussten bei der Wahl kräftig Federn lassen und verloren die Mehrheit. Die Bürgerschaft hatte so ihren Unmut über die von der SPD geführten Landesregierung zu verantwortende Neugliederung der Kreise, Städte und Gemeinden deutlich zum Ausdruck gebracht. Nun, es war schon ein großer Einschnitt in das kommunale Leben, der in manchen Bereichen bis heute nicht ganz verwunden ist. (…) Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es in 1970 im Altkreis Eschwege 69 und im Altkreis Witzenhausen 57 selbständige Städte und Gemeinden mit Bürgermeister und Gemeindevertretung gab, die nun in 16 Städten und Gemeinden zusammengefasst wurden, dann kann man sicher ermessen, wie tiefgreifend die Veränderung war. Das ging nicht ohne Verletzung und Frustration bei den bis dahin vor Ort Verantwortlichen ab und, so konstatierte Erika Wagner immerhin ein Vierteljahrhundert nach der vollzogenen Reform, „ein Rest von Groll kommt bei den Älteren immer wieder einmal hoch.“ 242 52 SUCHEN UND FINDEN DER WEG DES KREISES BIS ZUM NOVEMBER 1989 06
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