Chronik Werra Meißner Kreis

Seit der Abriegelung der Zonengrenze gehörten Grenzschutz- und Zollbeamte zum alltäglichen Bild im Kreis. Während der Zoll schon bald nach der Wiedervereinigung vor Ort abzog, ist die Bundespolizei als Nachfolger des Bundesgrenzschutzes noch heute mit einem Aus- und Fortbildungszentrum in Eschwege vertreten. Besonders menschenverachtend am Sperrsystem der DDR waren die Splitterminen (SM 70), die beim Berühren der Kontaktdrähte detonierten und ihre Opfer schwer verletzten. Unvermittelt wurde diese Technik dann ab Herbst 1983 abgebaut, mutmaßlich als Folge eines Milliardenkredites, den Franz-Josef Strauss, der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, der DDR vermittelt hatte. Zwischen Hessen und Thüringen starben an der Innerdeutschen Grenze sechsundzwanzig Menschen bei Fluchtversuchen, mutmaßlich letztes Grenzopfer dürfte am 30. März 1982 Heinz-Josef Große (35) aus Thalwenden gewesen sein. Ihn trennten nur noch wenige Meter von westdeutschem Boden, als er bei Sickenberg von Kugeln der DDR-Grenzposten niedergestreckt wurde. Abgesehen von diesen unmenschlichen Begleitumständen und dem mit dem oft zitierten „gesunden Menschenverstand“ nur sehr schwer zu begreifendem Umstand, dass eine Urlaubsreise ins sonnige Italien leichter zu unternehmen war, als der Besuch eines Allendörfers bei den Bekannten im drei Kilometer entfernten Wahlhausen oder eines Altenburschlaers im nur den berühmten „Katzensprung“ entfernten Großburschla, bedeutete die„innerdeutsche Grenze“ für unsere Region einen jahrzehntelangen wirtschaftlichen Hemmschuh und die ebenso lange Abhängigkeit von staatlichen Fördertöpfen. Um die tatsächliche Dimension dieser Problematik deutlich zu machen, genügt ein kurzer Blick auf die geographische Lage beider Kreise: Von den insgesamt 195 km der Eschweger Kreisgrenze waren fast die Hälfte (95 km) gleichzeitig schwer bewachte Zonengrenze, der Kreis Witzenhausen teilte dieses Los auf insgesamt 24,5 km. Neben der menschlichen Tragik dieses nach dem 13. August schier undurchdringlich gewordenen „Eisernen Vorhangs“ besaß die widernatürliche Grenzziehung durch die ehemalige Mitte Deutschlands noch eine erhebliche wirtschaftliche Problematik, die die Entwicklung beider Kreise – wenn auch in unterschiedlicher Schwere – nachhaltig beeinträchtigte. Zum einen wurde der historisch gewachsene hessisch-thüringische Wirtschaftsraum auseinander gerissen – nicht umsonst waren die Kreise Mühlhausen, Heiligenstadt, Worbis und Schmalkalden als Teil der gemeinsamen Industrie- und Handelskammer Kassel/Mühlhausen integraler Bestandteil unserer Wirtschaftsregion – zum anderen hatte die plötzliche Randlage zum westlichen Wirtschaftsraum schwerwiegende Strukturnachteile zur Folge. Durch die Grenzziehung waren sowohl die frühere geographische Mittelpunktfunktion innerhalb Deutschlands als auch wichtige Beziehungen in den ostdeutschen Raum sowie nach Mittel– und Osteuropa zerschnitten worden. Zusätzlich zu diesen eher übergeordneten ökonomische Faktoren hatten viele kleine und mittlere heimische Unternehmen wichtige Absatzgebiete verloren. Dies galt im Bereich des Kreises Witzenhausen insbesondere für den nördlichen Teil mit den Städten Witzenhausen und Bad Sooden-Allendorf, denen mit dem benachbarten Eichsfeld nun ein wichtiger Teil ihrer traditionellen Absatzmärkte weggebrochen war. Ähnlich, nur ungleich gravierender, gestaltete sich die Situation im Kreis Eschwege. Hier waren die ökonomischen Verflechtungen nach Thüringen traditionell noch stärker als im Kreis Witzenhausen, der in seinem südlichen, vornehmlich industriell geprägten Teil stark in den Kasseler Raum orientiert war. Die Folge war eine außergewöhnlich hohe Zahl an Arbeitslosen, wie die„Hessischen Nachrichten“ am 6. Februar 1950 melden mussten: „Die Zahl der Arbeitslosen für den Bezirk Witzenhausen wird für Januar mit 2.809 gegenüber 2.172 im Dezember angegeben, wobei für den Bereich Witzenhausen 17,5 % Arbeitslose gemeldet sind. Den Höchstdurchschnitt an Arbeitslosen meldet Eschwege mit 30,5 %.“ Zonenrandförderung und „Großer Hessenplan“ sollen Lebensverhältnisse verbessern Bereits seit Mitte der 50er Jahre wurden deshalb verstärkt staatliche Fördermittel für Investitionen in der Region bereitgestellt, so dass sich die Zahl der Beschäftigten im Landkreis Eschwege von 16.000 im Jahr 1951 auf 22.520 im Jahr 1966 erhöhte – und das trotz der Stilllegung des Kupferschieferbergbaus in Sontra. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Firma Massey-Ferguson genannt werden, die ab 1952 auf dem sogenannten „Eschweger Flugplatz“ angesiedelt wurde und in Spitzenzeiten bis zu 2.500 Mitarbeiter beschäftigte. 37 VON DER STUNDE„NULL“ ZUR GEBIETSREFORM 04

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