Chronik Werra Meißner Kreis

Auf den schneereichen und überaus frostigen Winter folgte ein außergewöhnlich langer, trockener Sommer mit entsprechend niedrigen Ernteerträgen – zusammengenommen Folgen, die einer Naturkatastrophe gleichkamen. „Das Jahr 1947“, schreibt ein Chronist, „brachte im Sommer und Herbst eine seit fast 40 Jahren nicht da gewesene Dürre mit sich. In der Zeit von Anfang Juli bis Mitte Oktober sind keine nennenswerten Niederschläge gefallen. Die Weiden sind völlig ausgebrannt, und es macht sich eine unvorstellbare Futterknappheit bemerkbar. Ein erheblicher Teil des Milchviehs muss verkauft und notgeschlachtet werden. Die Hackfrüchte, die sich sehr gut entwickelt hatten, brachten einen nur geringen Ertrag. Auf Anordnung des Landwirtschaftsamtes Hessen sollen für die Nichtselbstversorger nur 1 Ztr. Kartoffeln zur Einkellerung für den Winter freigegeben werden. Ein großer Teil der Bevölkerung sieht dem Winter 1947/1948 mit noch größerer Besorgnis als dem vorigen Winter entgegen.“ 229 Noch bis Mitte 1948 unterlagen fast alle Gebrauchsgüter der Zwangsbewirtschaftung und es fehlte, neben den Lebensmitteln, an Kleidungsstücken aller Art und zahllosen Gütern des täglichen Bedarfs, die, wenn überhaupt, nur mit Bezugsscheinen zu bekommen waren. Die Zuteilung mit Bezugsscheinen war jedoch völlig unzureichend und die Stimmungslage der auf engstem Raum zusammengedrängten Bevölkerung entsprechend. Zunehmend wertloser wurde auch das Geld und jeder, der es irgendwie konnte, hortete entweder Sachwerte oder tauschte sie bei den unzähligen sogenannten „Hamsterfahrten“ auf dem Land gegen Lebensmittel oder auf dem ausufernden Schwarzmarkt ein. Ein Stimmungsbild aus jenen Jahren gibt der damalige Großalmeröder Bürgermeister Carl Thiel. „Jeder einzelne ist der Überzeugung“, schrieb er Mitte 1947, „dass in absehbarer Zeit eine Neuregelung der Währung durchgeführt werden muss, da die gegenwärtigen Verhältnisse auf die Dauer nicht tragbar sind. Industriebetriebe, Kaufleute usw. versuchen vielfach sich dadurch gegen eine Minderung ihres Vermögens zu schützen, dass sie die von ihnen erzeugten Waren zurückhalten, um dadurch einer Abwertung zu entgehen. Man muss daher von einer ausgesprochenen Flucht in die Sachwerte sprechen. Die Folge dieses Verfahrens ist aber, dass trotz aller Ankurbelungsversuche der Produktion die produzierten Waren nicht auf dem Markt erscheinen.“ 230 Diese Zustände hatten die Menschen noch bis zum Sommer 1948 zu ertragen, ehe mit der Währungsreform der Grundstein für stabile wirtschaftliche Verhältnisse gelegt wurde. Und so war dann auch der 20. Juni 1948 – es war ein an Werra und Meißner trüber und verregneter Sonntag – ein ganz besonderer Tag. Überall stauten sich die Menschen in langen Schlangen, ein für die damalige Zeit nicht ungewöhnliches Bild. Nur ging es diesmal um kein Sonderangebot auf einen bestimmten Abschnitt der Lebensmittelkarte, sondern es gab das neue Geld, das„Deutsche Mark“ hieß und von dem niemand wusste, was es wert sein würde. Jedem standen 60,– Mark zu, zunächst kamen aber nur 40,– Mark zur Auszahlung. Später konnten Reichsmark-Beträge, 1:10 abgewertet, in Deutsche Mark umgetauscht werden, waren aber in der neuen Währung zu versteuern. Viele Millionen Reichsmark auf den Kundenkonten der Kreissparkassen in Eschwege und Witzenhausen lösten sich praktisch in Luft auf, der Wert der Reichsanleihen sank auf null. Allein die Städte im heutigen Kreisgebiet verloren viele Millionen Mark, waren fast ohne Mittel und mussten neben einer deutlichen Verringerung des Personals zur monatlichen Einziehung von Steuern und Gebühren übergehen. Besitzer von Sachwerten konnten sich glücklich schätzen und der viel beschworene„gleiche Start für alle“ stand nur auf dem Papier. Der Morgen des 21. Juni sah dann in den Innenstädten eine völlig veränderte Schaufensterlandschaft. Ob in Sontra oder Eschwege, Waldkappel oder Großalmerode, Hess. Lichtenau oder Witzenhausen, in den Schaufenstern häuften sich auf einmal die Waren, die man jahrelang vermisst hatte. Die Wirtschaft hatte in Erwartung der Währungsreform Waren gehortet, nun fehlte vielen Menschen das Geld, diese auch zu kaufen. Dennoch stabilisierte die Währungsreform nicht nur den Geldwert und trocknete den Schwarzmarkt binnen Kurzem aus, sondern gab auch den Startschuss für die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und ermöglichte das in den 50er Jahren so viel bestaunte„Wirtschaftswunder“. Auch sonst stellte der Neuanfang den Menschen eine schwierige Aufgabe. Sie mussten einen ebenso schnellen wie gründlichen Wechsel in Verwaltung und Politik verkraften und zugleich die Vergangenheit bewältigen. Das Verhältnis der Besatzungsmacht zur Bevölkerung war klar definiert und konnte als „geschäftsmäßig korrekt“ bezeichnet werden. Zwischenmenschliche Kontakte untersagte das sogenannte„Fraternisierungsverbot“, das nur auf dem „Schwarzen Markt“ und in der Liebe durchbrochen wurde. Übergriffe waren selten, kamen aber vor. Weitaus schwieriger gestaltete sich die sogenannte „Entnazifizierung“, die auf der Grundlage des im März 1946 verabschiedeten „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ mittels sogenannten „Spruchkammern“ durchgeführt wurde. Demnach musste jeder Deutsche einen Meldebogen ausfüllen und dort Angaben zu seinem Lebensweg während des „Dritten Reiches“ machen. Die Spruchkammer entschied dann über die Einstufung des einzelnen in eine der fünf Kategorien, die sich in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete aufteilten. Grundsätzlich muss angemerkt werden, dass das schematische Verfahren viel zu viele betraf und den individuellen Lebenswegen nicht gerecht werden konnte. Die Kritik von deutscher Seite richtete sich vor allem gegen den Umfang. 34 VON DER STUNDE„NULL“ ZUR GEBIETSREFORM 04

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