Eine von der Kreisverwaltung Witzenhausen Mitte der 50er Jahre in Auftrag gegebene „Kreisbeschreibung“ kommt bezüglich des Zusammenlebens von „Alteingesessenen“ und Heimatvertriebenen zu einem Ergebnis, das durchaus als repräsentativ auch für den damaligen Kreis Eschwege gelten kann: „Im Laufe von sieben Jahren (1946–1953) des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der verschiedenen Bevölkerungsteile“, so die Einschätzung, „hat ein gewisses Abschleifen der anfänglich auftretenden Gegensätze mit sich gebracht. Wo diese noch heute auftreten, gehen sie meist auf Wohnungsschwierigkeiten zurück. Besonders unter den Jugendlichen bestehen kaum noch Gegensätze irgendwelcher Art. Durch Heirat sind schon manche Familienbande zwischen Alteingesessenen und Neubürgern geknüpft worden. Wenn die Heimatvertriebenen also in ihrem neuen Heimatgebiet schon in weitem Umfang Wurzeln geschlagen haben, bleibt es nun Aufgabe der Planung und Verwaltung dafür zu sorgen, dass diese wertvollen Kräfte weiterhin beim Wiederaufbau der Wirtschaft und im kulturellen Leben mithelfen.“ 225 Viel dazu beigetragen hat auch der erstmals vom damaligen Ministerpräsidenten Zinn am 10. Januar 1951 verkündete „Hessenplan“, – der dann im April 1965 als „Großer Hessenplan“ bis in die 70er Jahre fortgeschrieben wurde – der nicht nur im Allgemeinen die Situation in dem neu gebildeten Bundesland verbessern sollte, sondern sich auch speziell der Situation der Vertriebenen annahm und diese deutlich zum Positiven wendete. Sorgenkinder Wirtschaftslage, Versorgung und Wohnungsnot Nicht minder katastrophal als die Wohnungssituation stellte sich in den ersten Nachkriegsjahren die allgemeine Versorgungslage dar, die, sowieso bereits problematisch, durch die schiere Zahl vieler tausend Neubürger zu kollabieren drohte. Im Vergleich zu den letzten Kriegsjahren hatte sich der Rückgang der Nahrungsmittelproduktion noch verstärkt, denn mit den deutschen Ostgebieten standen die traditionellen Kornkammern des untergegangenen Reiches entweder unter polnischer Verwaltung oder lagen in der sowjetischen Zone. Im Westen fehlte es sowohl an Düngemitteln als auch an Saatgut, so dass die vorhandenen Anbauflächen noch nicht einmal den notwendigsten Bedarf decken konnten. Ähnlich war die Lage auf dem Energiesektor: Kohlen standen nur den wichtigen Industrieunternehmen zur Verfügung und wenn es sie für die Allgemeinheit gab, machte es die zerstörte Verkehrsinfrastruktur nahezu unmöglich, sie zu den Verbrauchern zu transportieren. Brennholz war rationiert, und die Versorgung mit elektrischem Strom, auch damals schon für die Gesellschaft fast überlebensnotwendig, konnte nur stundenweise erfolgen. Wer gehofft hatte, die allmähliche Normalisierung des Lebens würde auch die Energieversorgung mit einbeziehen, sah sich bitter getäuscht. Im Gegenteil: Ende Februar 1947 erreichte die Versorgung mit elektrischer Energie in der Region einen neuen Tiefpunkt. „Wegen der immer schlechter werdenden Stromversorgungslage“, so der Leitartikel in den „Hessischen Nachrichten“, „die aus einem akuten Kohlenmangel und durch Abfuhr von enormen Mengen Strom an ehemalige Feindstaaten entstanden ist, und um einer Katastrophe auf diesem Gebiet vorzubeugen, macht man sich Gedanken darüber, ob man ein Windkraftwerk errichten sollte.“ 226 Dieser höchst modern anmutende Vorschlag kam nicht zur Ausführung – die Versorgung mit Strom hingegen blieb mehr als mangelhaft. Besonders dramatisch gestaltete sie sich noch einmal im Winter 1948/1949, also fast vier Jahre nach Kriegsende. Am 29. Oktober 1948 wurde bekannt gegeben, dass „… die Stromversorgung in Nordhessen katastrophal geworden“ sei, die „Bevölkerung mit Stromabschaltungen in noch größerem Umfang als bisher rechnen“ müsse und „auch tagsüber jederzeit Ganzabschaltungen vorgenommen werden“ 227 können. Bis zum Herbst 1949 änderte sich an dieser Situation nur wenig, erst dann kam es zur langersehnte Wende zum Besseren. „Die Nazis hatten es mit den Vitaminen, die Amerikaner mit den Kalorien, wir wollen endlich was zu Fressen“, lautete ein bekannter Nachkriegsslogan. Die Versorgung, auf die hier angespielt wurde, war noch schlechter als im letzten Kriegsjahr und strengste Rationierung weiterhin unumgänglich. Die größte Gruppe der Bevölkerung, besser bekannt unter der bis heute unvergessenen Bezeichnung „Normalverbraucher“, erhielt eine Mengenzuteilung, die man heute nur noch aus Fahrplänen für strenge Diäten kennt. Der Normalverbraucher der 93. Zuteilungsperiode vom 16. September bis 13. Oktober 1946 erhielt für den Zeitraum einer Woche: 1.500 Gramm Brot, 150 Gramm Nährmittel, 3.000 Gramm Kartoffeln, 75 Gramm Fett, 62,5 Gramm Zucker, 250 Gramm Fleisch, 50 Gramm Puddingpulver, 31,25 Gramm Käse, 50 Gramm Kaffee-Ersatz sowie einen Liter entrahmte Frischmilch. Angstvoll blickte man nun dem Ertrag der Ernte entgegen, die, wenn sie ähnlich schlecht ausfiel wie 1945, auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung auf Besserung verglühen lassen würde. „Die Ernährungslage ist auch weiterhin als sehr ernst zu bezeichnen“, vermeldete der polizeiliche Lagebericht vom Juni 1946, um dann ein düsteres Zukunftsbild zu malen. „Durch den in den letzten Wochen anhaltenden Regen ist auch die erhoffte Ernte in Gemüse und Obst nicht ausgefallen, wie es erforderlich wäre. Ebenfalls ist die Heuernte durch die dauernden Regenfälle sehr in Mitleidenschaft gezogen, so dass sich auch dieses im kommenden Winter ungünstig auswirken wird.“ 228 Ebenso schlecht wie bei Heu, Gemüse und Obst sah es im Frühherbst des Jahres 1946 allenthalben bei den Kartoffeln aus. Hinzu kam der längste und kälteste Winter seit Menschengedenken, dessen Folgen die Zuteilungsmenge an Lebensmitteln bis Mitte April 1947 auf den bis dato tiefsten Stand absinken ließ. Zur gleichen Zeit gab Ministerpräsident Stock auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die hessischen Lebensmittelvorräte nur noch für 14 Tage reichen würden. 33 VON DER STUNDE„NULL“ ZUR GEBIETSREFORM 04
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