mit tausenden zerstörter Brücken, Bahnhöfen und 2,25 Mio. zerstörter Wohnungen, ohne Industrie, Rohstoffe, Nahrung, der größte Teil seiner Männer hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager – soweit sie nicht verwundet, gefallen oder verschollen waren – ein Land mit Nahrungsmittelrationen von 1150 Kalorien täglich, in das nun auch noch Millionen von Flüchtlingen einströmten – dieses Deutschland also ging an seinen Wiederaufbau. Wiedergeburt der Demokratie und Integration der Flüchtlinge Mühsam wieder bzw. gänzlich neu aufgebaut werden mussten auch die durch zwölf Jahre NS-Diktatur fast völlig verschütteten demokratischen Institutionen. Zu den ersten demokratischen Wahlen nach dreizehn Jahren wurden die Menschen am 27. Januar 1946 an die Urnen gerufen: Überall in Großhessen entschied die Bevölkerung über die Zusammensetzung der Gemeindeparlamente. Schon unmittelbar nach Kriegsende hatten sich aus Widerstandsgruppen und Verfolgten des NS-Regimes sogenannte „Antifaschistische Ausschüsse“ gebildet, die sich mit dem vorsichtigen Aufbau einer demokratischen Parteienlandschaft im Sommer 1945 wieder auflösten. Diese Parteienlandschaft wurde von den Traditionsparteien SPD und KPD und der sich neu bildenden Christlich-Demokratischen Union (CDU) – hervorgegangen aus dem katholischen Zentrum und dem protestantisch geprägten Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) – geprägt. Hinzu kam die „Liberal-Demokratische Partei (LDP)“, aus der dann die am 11. Dezember 1948 im Heppenheim gegründete„Freie Demokratische Partei“ (F.D.P.) hervorging. Diese vier, zwischen dem 13. Dezember 1945 und dem 11. Januar 1946 zugelassenen Parteien, stellten sich Ende Januar 1946 der Gemeindewahl, Ende April 1946 der Kreistagswahl, Ende Juni 1946 der Wahl zur verfassungsberatenden Landesversammlung und am 1. Dezember 1946 der Wahl zum ersten hessischen Landtag. In den Altkreisen Eschwege und Witzenhausen wurden die Sozialdemokraten – bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 87 % – bei den Gemeinde- und Kreistagswahlen mit 54,7 % bzw. 57 % der abgegeben Stimmen die bei weitem stärkste politische Kraft und knüpften damit nach den schrecklichen Jahren von Diktatur, Demütigung und Verfolgung wieder an ihre politische Stellung an, die sie auf Landkreisebene in der Region bis zum Ende der zwanziger Jahre inne gehabt hatten. Auch die Presselandschaft sortierte sich neu und als erste überörtliche Tageszeitung erschienen die in Kassel herausgegebenen „Hessischen Nachrichten“, die ab dem 23. Januar 1946 mit dem sogenannten „Werraboten“ eine besondere Beilage mit Nachrichten für die „Bevölkerung der Kreise Eschwege und Witzenhausen“ 221 präsentierte. Ein Blick sowohl in die Presse als auch die amtlichen Dokumente jener Tage zeigt, welche Probleme damals vordringlich zu lösen waren. „Die Wohnungskommission muss“, hieß es da in den Protokollen der Witzenhäuser Stadtverordnetenversammlung, „mit allen Mitteln die Sicherstellung der Wohnungen für Ostflüchtlinge durchführen“ 222 und die „Hessischen Nachrichten“ erschienen am 23. März 1946 mit der Schlagzeile„Europa hungert“ – um dann nur wenige Tage später ihren Lesern mitzuteilen, dass ab dem 1. April die Lebensmittelrationen von 1.550 auf 1.275 Kalorien pro Tag herabgesetzt würden. Damit waren auch schon die Dinge benannt, mit denen die Menschen am meisten zu kämpfen hatten: Wohnungsmangel und unzulängliche Versorgungslage. Im April 1946 trafen die ersten Heimatvertriebenen ein, wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die einzelnen Städte und Gemeinden verteilt und verschärften durch ihre bloße Anwesenheit überall die ohnehin angespannte Wohnraumsituation auf dramatische Weise. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zählte der Kreis Eschwege 51.191 und der Kreis Witzenhausen 37.860 Einwohner. Diese Zahlen erhöhten sich bis 1950 um ca. 22.000 im Altkreis Eschwege und 18.000 im Altkreis Witzenhausen, um sich dann Mitte der 60er Jahre durch Abwanderung in die Ballungsgebiete im Altkreis Eschwege bei 65.520 (plus 28 %) und im Altkreis Witzenhausen bei 52.835 (plus 39 %) Einwohnern einzupendeln. Im Mai 1946 erreichten die Transporte ihren Höhepunkt und Hans v. Coelln, der kommissarische Landrat des Kreises Witzenhausen, informierte am 14. Mai die Bürgermeister seiner Gemeinden über weitere zu erwartende Transporte und die damit einhergehenden Schwierigkeiten: „Ich möchte darauf hinweisen, dass grundsätzlich sich jeder Ortsansässige gefallen lassen muß, dass er bei der Einweisung von Flüchtlingen in seinem Wohnraum beschränkt wird. Der Ortsansässige wird dabei in der Regel immer noch geräumiger und besser wohnen als der Flüchtling. Über der Gewährung der Unterkunft hinaus muss den Flüchtlingen auch der notwendigste Hausrat zur Verfügung gestellt werden, ebenso Schränke oder Schrankteile, damit der Flüchtling imstande ist, seine geringe mitgebrachte Habe einigermaßen ordnungsmäßig unterzubringen. Da die Haushaltungen der ortsansässigen Bevölkerung im Gegensatz zu den Verhältnissen in anderen Kreisen von Fliegerschäden nicht betroffen wurden, dürfte in jedem Haushalt noch so viel Geschirr vorhanden sein, dass auch die Flüchtlinge noch mit versorgt werden können. Ich werde künftig bei berechtigter Klage, falls es dem Quartiergeber an dem notwendigen sozialen Verständnis fehlt, mit aller Entschiedenheit gegen die Betreffenden vorgehen.“ 223 Die Integration der neuen Mitbürger war sicher nicht einfach, aber sie gelang Schritt für Schritt. Am leichtesten konnten sich naturgemäß die Kinder mit der neuen Situation abfinden und schon im Herbst 1946 hatten sich „… die eingewiesenen Flüchtlingskinder schnell mit den hier beheimateten Kindern angefreundet. Spannungen oder gar Zänkereien sind nicht zu beobachten, was umso erfreulicher ist, da es sich um verschiedene Konfessionen handelt. Die zugewanderten Familien sind alle katholisch und die Zahl der katholischen Schulkinder stieg dadurch beträchtlich.“ 224 32 VON DER STUNDE„NULL“ ZUR GEBIETSREFORM 04
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