Chronik Werra Meißner Kreis

Der scheidende Landrat Stefan Reuß übergibt zusammen mit dem Ersten Kreisbeigeordneten Dr. Rainer Wallmann der neuen Landrätin Nicole Rathgeber den symbolischen Schlüssel für die Kreisverwaltung. Nun mussten beide Spitzenpositionen nacheinander neu besetzt werden, ein Vorgang, der die heimische politische Landschaft gehörig durcheinanderwirbelte. Für den Landratsposten waren es dann letztlich vier Kandidatinnen und Kandidaten, die für den zum 1. Januar 2022 freiwerdenden Chefsessel im Landgrafenschloss ihre Hüte in den Ring warfen: die Bürgermeister Herz (Witzenhausen, parteilos), Hix (Bad Sooden-Allendorf, CDU) und Lenze (Berkatal, SPD) sowie als einzige Frau innerhalb der bürgermeisterlichen Männerrunde die Grebendorfer Ortsvorsteherin Nicole Rathgeber, deren Kandidatur von den Freien Wählern unterstützt wurde. Den ersten Wahlgang am 24. Oktober entschied Friedel Lenze mit 41,56% der Stimmen für sich, gefolgt von Nicole Rathgeber, die 29,70% auf sich vereinigen konnte – beide stellten sich am 7. November der notwendigen Stichwahl. Letztere entschied, wie die Presse titelte„überraschend“390 Nicole Rathgeber mit großem Vorsprung für sich (59,7% gegenüber 40,3%) und wurde dadurch zur neuen Landrätin gewählt. Ihren höchsten Stimmenanteil erreichte die neue Landrätin dabei im Ringgau mit 79,4% und in Wanfried mit 71,9%, ihren niedrigsten in Eschwege und Berkatal – knapp an der 50%-Marke vorbei – mit jeweils 46,9%. Alles in allem ein solides Wahlergebnis. In ihr Amt eingeführt wurde sie in der Kreistagssitzung am 13. Dezember 2021, in der gleichzeitig der scheidende Landrat Stefan Reuß nach seiner letzten höchst emotionalen Kreistagsrede vom Hohen Haus einmütig „mit Ovationen im Stehen verabschiedet“391 wurde. Landrätin Nicole Rathgeber (Mitte) bei ihrer Amtseinführung mit dem scheidenden Landrat Stefan Reuß (rechts) und dem damaligen Kreistagsvorsitzenden Friedel Lenze (links). Als Nicole Rathgeber am 1. Januar 2022 ihr Amt antrat, war das für den Werra-Meißner-Kreis in vielerlei Hinsicht eine Zeitenwende: Seit Gründung der Landkreise Eschwege und Witzenhausen 1821 und deren Zusammenlegung 1974 war die neue Landrätin die erste Frau an der Spitze des Kreises, die erste, die die Bastion der SPD im Landratsamt nach 48 Jahren durchbrochen hatte, zudem in Hessen eine von damals insgesamt nur drei (heute zwei) Landrätinnen und die einzige, die aus den Reihen der Freien Wähler kam. Bundesweite Bekanntheit erlangte die Landrätin dann anderthalb Jahre später, als sie in der Sendung „RTL Direkt Special – Am Tisch mit Olaf Scholz“ als eine von vier „Menschen aus dem Volk“ die Möglichkeit hatte, direkt mit dem Bundeskanzler zu diskutieren. Eine knappe Million Zuschauer hatte eingeschaltet und erlebte eine Landrätin, die mit Olaf Scholz „…auf Augenhöhe diskutierte“ und dabei „den Schneid hatte, dem Bundeskanzler Erfahrungen von „normalen Menschen“ sachlich, aber bestimmt mit auf den Weg zu geben (…) Nicht zuletzt prägte sie den Satz des Abends, der in der Übertragung ein wenig unterging: „Seien Sie mehr on fire!“392 „On fire“ geriet dann ab Herbst zunehmend die hauchdünne rot-grün-rote Mehrheit im Kreistag. Landrätin Nicole Rathgeber diskutierte mit Bundeskanzler Olaf Scholz am 6.6.2023 auf Augenhöhe bei„RTL direkt special – Am Tisch mit Olaf Scholz“. Eindringlich waren Ihre Worte an den Bundeskanzler „Seien Sie mehr on fire!“ Nach der Ankündigung des hauptamtlichem Ersten Kreisbeigeordnetem, den Werra-Meißner-Kreis in Richtung Ruhrgebiet zu verlassen (s.o.), begann die fieberhafte Suche nach einem Nachfolger. Im Herbst 2022 schickten dann die Grünen, die laut Koalitionsvertrag das Vorschlagsrecht für diese Position besaßen, Holger Pflüger-Grone aus Witzenhausen ins Rennen. Die Abstimmung am 26. September zeitigte allerdings auch nach drei Wahlgängen kein Ergebnis, denn dem Kandidaten der Mehrheitsfraktionen war in allerletzter Minute in Gestalt des von der CDU ins Rennen geschickten Juristen Dr. Philipp Kanzow ein Gegenkandidat erwachsen, der die exakt gleiche Stimmenzahl erreichte. Was folgte, war eine wachsende Ungewissheit über die zukünftigen Kräfteverhältnisse im Kreistag, die in eine Neuausschreibung der Beigeordnetenstelle und den Verzicht des Grünen-Kandidaten auf einen zweiten Wahlgang mündete. 116 FLUCHT, PANDEMIE UND KRIEG  DEKADE DER HERAUSFORDERUNGEN 10

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