Chronik Werra Meißner Kreis

Offenbar war für viele der Neuankömmlinge Eschwege nur Zwischenstation, denn bereits am nächsten Morgen machte sich ca. die Hälfte der Flüchtlinge auf den Weg zum Stadtbahnhof, um von dort die Weiterreise anzutreten. Hier wurden sie allerdings aufgehalten, weil vor Ort ziemliche Verwirrung bzgl. einer möglichen Residenzpflicht herrschte. Erst im Laufe des Tages klärte sich die Situation und die Menschen konnten weiterreisen. „Es gibt eine Reihe offener Fragen,“ so Kreissprecher Jörg Klinge damals, „die das Land Hessen und der Bund noch beantworten müssen.“ 368 In Hess. Lichtenau wurde in Rekordzeit eine Zeltstadt für 500 Bewohner aus dem Boden gestampft – kaum war sie fertiggestellt, wurde entschieden, dass es zu kalt für die Unterbringung im Zelt sei, und die Menschen wurden in andere Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt, Abbau der Zelte bis Mitte Dezember inklusive. Parallel dazu entstand im Industriegebiet Senkefeld auf 34.000 m² eine feste „Flüchtlingsstadt“ aus 17 Leichtbauhallen, die ein Fassungsvermögen von 1.250 Personen besaßen und kurz vor Weihnachten mit den ersten 90 Geflüchteten belegt wurden. Über die reine Unterbringung und Versorgung sowie das Engagement der staatlichen Stellen hinaus, blieb auch die Zivilgesellschaft von der Flüchtlingsproblematik nicht unberührt. Dabei reichte die Bandbreite von dezidiert fremdenfeindlichen Übergriffen – so z. B. im Witzenhäuser Erntefestzelt und bei der daran anschließenden Mahnwache auf dem Marktplatz 369 – einem Aufnahmestopp bei der Eschweger Tafel – der Installierung einer Arbeitsgruppe „Wir im Werra-Meißner-Kreis“ mit Hilfen zur Integration bis hin zu einer beispiellosen Welle an Hilfsbereitschaft, die parteien- und generationenübergreifend das gesamte Kreisgebiet erfasste. Besonders nachhaltig entwickelte sich die bis heute aktive Initiative „Eschwege hilft“, die aus einer Matratzen-Sammelaktion entstand und innerhalb kürzester Zeit zu einer ehrenamtlichen Organisation mit zahlreichen Helferinnen und Helfern sowie einem umfangreichen Aufgabenspektrum wurde. Im Mittelpunkt stand während der Flüchtlingskrise die Entgegennahme und großflächige Verteilung von Hilfsgütern, die in einem ehemaligen Eschweger Supermarkt erfolgte. Matratzenlager in der Überlaufeinrichtung Helgoländer Str. 1 in Eschwege. Versorgungslager mit Wasservorräten und unverderblichen Lebensmitteln in der Überlaufeinrichtung Helgoländer Str. 1 in Eschwege. Zum Jahreswechsel 2015/2016 hatte sich die allerorten zu konstatierende aufgeregte Stimmung dann wieder deutlich beruhigt und langsam gewann das„business as usual“ die Oberhand. Die schlimmsten Prognosen bzgl. der Zahl unterzubringender Geflüchteter waren nicht eingetreten und mit 964 Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften plus 267 in Notunterkünften war man Mitte Dezember 370 weit von der noch am Monatsbeginn prognostizierten Zahl 2000 entfernt. 371 Die in Gemeinschaftsunterkünften bzw. Wohnungen untergebrachten 964 Flüchtlinge verteilten sich auf die 16 Kommunen des Kreises wie folgt: Stadt/ Gemeinde Gemeinschafts- unterkunft Wohnung Not- unterkunft Eschwege 192 38 267 Witzenhausen 192 27 0 Sontra 103 13 0 Hess. Lichtenau 85 6 0 Bad Sooden- Allendorf 58 7 0 Großalmerode 39 9 0 Meinhard 30 13 0 Ringgau 30 0 0 Weißenborn 30 0 0 Waldkappel 24 0 0 Neu-Eichenberg 20 1 0 Meißner 19 0 0 Herleshausen 12 4 0 Wehretal 8 0 0 Berkatal 0 4 0 Wanfried Belegung erst 2016 0 0 Und noch etwas trug ganz wesentlich zur Beruhigung der Verantwortlichen im Kreis und zu einer verhalten optimistischen Zukunftsaussicht bei: Der Werra-Meißner-Kreis bekam deutlich mehr Geld für Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten als bislang prognostiziert. War man seitens des Kreises im Sommer noch von einer schmerzhaften Unterdeckung der 108 FLUCHT, PANDEMIE UND KRIEG  DEKADE DER HERAUSFORDERUNGEN 10

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