Blick zum Haupteingang des neuen Verwaltungszentrums am Schlossplatz 9. „Es ist eine historische Zeit“ Mit dieser Aussage beschrieb Michael Roth, der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt und heimische Bundestagsabgeordnete, im Kontext der Diskussionen um die Planung einer weiteren großräumigen Unterkunft für 500 Personen im Feriendorf Sontra die Flüchtlingssituation Anfang Oktober 2015 366. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Flüchtlingswellen, die seit dem Frühsommer 2015 in immer kürzeren Abständen an die Grenzen Europas schwappten, in ihren Ausläufern endgültig auch den Werra-Meißner-Kreis erreicht. Nachdem viele europäische Länder ihre Grenzen für Geflüchtete geschlossen hatten und die Bundesregierung das mittlerweile historische Credo „Wir schaffen das“ verkündete, wurde Deutschland zum Hauptziel der Fluchtbewegung und die Menschen strömten in immer größerer Zahl ins Land. Schon bevor sich der große Flüchtlingstreck in Bewegung setzte, hatte Michael Roth mit der Aussage„Zuwanderer machen den Kreis bunter“ 367 die Richtung für unsere Region vorgegeben – nun lag es an den Verantwortlichen in Kreis und Kommunen, die neue Vielfalt unterzubringen und idealerweise auch dauerhaft zu integrieren. Im September wurden Erstaufnahmeeinrichtungen u. a. in Hess. Lichtenau und Sontra eingerichtet. Zusätzlich dazu bauten Kreis und Kommunen in rascher Folge und unter großem Zeitdruck die Kapazitäten in Gemeinschaftsunterkünften aus, so dass anfangs mit Ausnahme von Wanfried in allen Kommunen des Kreises Flüchtlinge untergebracht werden konnten. Auch in der ehem. Barbaraschule in Sontra wurde kurzerhand ein Notquartier für geflüchtete Menschen errichtet. Und sie kamen – Männer, Frauen und Kinder – oft mit so kurzen Vorlaufzeiten, dass nur Stunden blieben, um sie alle einigermaßen menschenwürdig unterzubringen. Wöchentlich trafen neue Gruppen ein und die Unterbringung wurde trotz der vorhandenen Kapazitäten immer schwieriger. Laut einer Ende Oktober 2015 veröffentlichten Studie des renommierten Pestel-Institutes fehlten im Kreisgebiet dauerhaft Wohnungen für knapp 500 Flüchtlinge – eine Aussage, die die Kreisverwaltung in letzter Konsequenz allerdings nicht bestätigen konnte bzw. wollte. Und das mit gutem Grund, denn in Richtung Jahresende stellte sich die Gesamtsituation im Bereich der Flüchtlingsproblematik zunehmend unübersichtlich, teilweise widersprüchlich und in manchen Teilbereichen sogar verworren dar. So kündigte z. B. im Oktober das Regierungspräsidium an, dass im ehemaligen Feriendorf Sontra Platz für 500 Geflüchtete geschaffen werden sollte, was in Stadt und Umland zu erregten Diskussionen auf Versammlungen und in Form von Leserbriefen in der örtlichen Presse führte. Dann passierte wochenlang nichts, ehe das RP Mitte Dezember mitteilte, dass noch vor Weihnachten mit den ersten 48 Bewohnern zu rechnen sei. Aber auch diese kamen nicht und zum Jahreswechsel 2015/2016 standen die Ferienhäuser immer noch leer. Anfang November musste dann auf Maßgabe der Landesregierung relativ überstürzt Platz für weitere 1000 Flüchtlinge geschaffen werden. Dies betraf allerdings nicht nur den Werra-Meißner-Kreis, sondern alle hessischen Landkreise gleichermaßen. Sinn dieser – nennen wir es einmal „Vorratshaltung“ – war die Entlastung der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, die dem Andrang offenbar nicht mehr gewachsen war. Innerhalb kürzester Zeit gelang es dank der Unterstützung von THW und Feuerwehren, die quasi im Akkord arbeiteten, diese Plätze in Eschwege auf dem Gelände der ehemaligen Firma Julphar und bei Friedola zu schaffen. In der Nacht zum 10. November kamen die ersten 100 Flüchtlinge in der Kreisstadt an, sorgten allerdings nur wenige Stunden später für erhebliche Irritationen. Einblick in die Überlaufeinrichtung in der Helgoländerstr. 1 in Eschwege (ehem. Friedola). Unter gewaltiger Kraftanstrengung konnte unter Zusammenarbeit der verschiedenen Rettungs- und Hilfsorganisationen und mit heimischen Firmen die Einsatzbereitschaft der Überlaufeinrichtungen fristgerecht gemeldet werden. 107 FLUCHT, PANDEMIE UND KRIEG DEKADE DER HERAUSFORDERUNGEN 10
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