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Niesky - wie alles begann

Von der kleinen Stadt Niesky gingen in ihrer noch recht jungen Geschichte viele progressive Impulse aus. Die Gründung des Ortes lässt sich auf den Tag genau nachweisen. Am 8. August 1742 legten böhmische Emigranten, die aus Glaubensgründen ihre katholische Heimat verlassen hatten, den Grundstein für die ersten drei Häuser. Sie hatten sich der Herrnhuter Brüdergemeine angeschlossen und bekamen auf dem Rittergut Trebus, dessen Besitzer Siegmund August von Gersdorf selbst Mitglied der Brüderunität war, die Möglichkeit sich eine neue Heimat aufzubauen. Der neue Ort erhielt den Namen "Niedrig", der als "Niesky" ins tschechische übersetzt wurde. Die Gründungsväter interpretierten den Begriff im religiösen Sinne als "niedrigsein-vor-Gott".

Durch Gutsherrn Siegmund August von Gersdorf wurde Niesky planmäßig angelegt. Der spätere Generalbaumeister der Brüderunität setzte dabei den Gedanken einer gleichberechtigt miteinander lebenden, christlichen Gemeinschaft gestalterisch um. Noch heute ist die streng symmetrisch gegliederte Ortsanlage um einen zentralen, parkähnlichen Platz und sechs schnurgerade davon abgehenden Straßen erkennbar und funktionsfähig. Gersdorf prägte außerdem den schlichten, ländlich-barocken Baustil für die Gemeinschaftsbauten der Brüdergemeine.
Das Alte Pädagogium und das Brüderhaus zeugen noch heute davon. Auch der erste Nieskyer Betsaal war ein Entwurf des begnadeten Baumeisters und wurde zum Vorbild für viele Kirchsäle in Herrnhuter Gemeinden. Als er 1875 zu klein geworden war, musste er dem Neubau der Brüderkirche weichen. Andere Gemeinhäuser, wie das Schwesternhaus an der Nordwestseite des Platzes und das Witwenhaus, wurden mit über 100 weiteren Gebäuden im April 1945 zerstört.

Eines der Gründungsbauten von 1742 ist erhalten geblieben. Das Haus des böhmischen Webers und ersten Ortsvorstehers von Niesky Johann Raschke ist auf den ersten Blick als das älteste Haus zu erkennen. In der Blockstube des Umgebindehauses standen einst die Webstühle, an denen die Familie ihren kargen Lebensunterhalt erwirtschaftete. Etwa im Jahre 1799 wurde das Raschkehaus sowie alle am Platz befindlichen Häuser verputzt. Somit verschwand infolge des damaligen Zeitgeschmacks das charakteristische böhmische Element. Bei der Generalsanierung 1995/96 entschied man sich für Sichtfachwerk und Wiederherstellung der Umgebindekonstruktion. Heute befinden sich die stadtgeschichtliche Ausstellung des Museums und die Touristinformation im Gebäude. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das Leben im Ort maßgeblich von den Glaubensrichtlinien und Traditionen der Brüdergemeine geprägt. Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine kleine, selbstständige und weltweit verbreitete evangelische Kirche. Sie hat ihre Wurzeln in der vor über 500 Jahren aus der tschechischen früh-reformatorischen Hussiten-Bewegung entstandenen "Kirche der böhmischen Brüder" und wurde 1722 durch Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf in Herrnhut neu gegründet. Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen hatten sich zusammengefunden, um getreu ihres Glaubens und ungeachtet ihres sozialen Standes in geschwisterlicher Verbundenheit miteinander zu arbeiten und zu leben. Weltweit zählt die Brüderunität heute ca. 900.000 Mitglieder in über 35 Ländern. Als Freikirche ist sie in Deutschland selbstständig organisiert, steht aber der Evangelischen Kirche sehr nahe. In Niesky und Umgebung zählt die Brüdergemeine heute etwa 350 Mitglieder, viele gehören als Doppelmitglied auch der Evangelischen Landeskirche an.
Schon wenige Jahre nach seiner Gründung entwickelte sich Niesky zu einem bedeutenden Schulstandort. Die Internatsschulen der Herrnhuter Brüdergemeine waren für ihre umfassende und humanistische Bildung weit bekannt. Neben der Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse in allen Fachgebieten beinhaltete das Lehrprogramm die Ausbildung handwerklicher Fertigkeiten sowie Sport und Bewegung an frischer Luft. Von der Existenz der Internatsschulen profitierte fast zwei Jahrhunderte lang auch das wirtschaftliche und kulturelle Leben des Ortes. Spuren wirken bis heute nach. So trägt das Gymnasium den Namen Friedrich Schleiermacher, einer der berühmtesten Nieskyer Absolventen. Niesky besitzt mit der historischen Jahnturnhalle am Zinzendorfplatz eine der ältesten Schulturnhallen Deutschlands und auch die Parkanlagen Astrachan und Monplaisir wurden einst von den Internatsschulen angelegt.
Der berühmte Herrnhuter Adventsstern ist die Erfindung eines Nieskyer Mathematiklehrers, der seinen Schützlingen damit das Vieleck anschaulich darstellen wollte.

Auch im diakonischen Bereich hat Niesky wichtige Impulse durch die Brüdergemeine erhalten. Nach seinen Anfängen in Gnadenfeld verlegte Dr. Hermann Plitt sein Diakonissenhaus 1883 nach Niesky. Seitdem werden in der Diakonissenanstalt Emmaus Menschen gepflegt und medizinisch betreut. Bereits im Jahr 1900 wurde auf damals noch freiem Feld ein großes Kranken- und Mutterhaus gebaut. Dieses wurde bis zur Fertigstellung des neuen Gebäudes 1995 als Krankenhaus genutzt.
Schon im 18. Jahrhundert entwickelte sich Niesky zu einem Handwerker- und Handelszentrum und wuchs zu einer Siedlung städtischen Typs heran. Zunächst regulierte die Brüdergemeine die Entwicklung des Handwerks im Ort. Anfangs wurden immer nur Gewerbe zugelassen, welche real den Bedürfnissen entsprachen. Lange Zeit hatte die Brüdergemeine das Vorkaufsrecht für Grund und Boden und verhinderte somit Grundstücksspekulationen. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Niesky schließlich einen gigantischen wirtschaftlichen Aufschwung. Aus der Werkstatt des Kupferschmieds Johann Ehregott Christoph entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung ein expandierender Maschinenbaubetrieb.
1887 etablierte sich der Holzbau als ein weiteres Unternehmen und mitten im Ersten Weltkrieg kam der Waggonbau als neuer Produktionszweig hinzu. Die Unternehmen schlossen sich 1922 als "Christoph & Unmack AG, Niesky/OL" zusammen und gliederten sich in die vier Werksabteilungen: Stahlbau, Motorenbau, Waggonbau und Holzbau. Neben Holzbauten aller Art wurden Waggons, Brücken, Maschinen und Motoren in Niesky produziert und in alle Teile Deutschlands, Europas und nach Übersee geliefert. Zum vielfältigen Fertigungsprogramm gehörten zum Beispiel der "Christoph-Diesel-Motor", die Norderelbebrücke in Hamburg oder der legendäre Straßenbahntyp "Hecht". Die Werksabteilung Holzbau produzierte industriell vorgefertigte Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, Hotels, Kirchen, Turnhallen, Verwaltungsgebäude, Baracken und freitragende Hallenbauten. Nach 1945 wurden die Betriebsbereiche Maschinen- und Holzbau eingestellt. Der Waggonbau und der Stahlbau etablieren sich als leistungsstarke Unternehmen bis heute am Ort. Zeitweise zählte das Gesamtwerk bis zu 4.500 Beschäftigte. Viele Menschen aus den umliegenden Dörfern fanden in den Fabriken Arbeit und pendelten täglich nach Niesky. Da bis zum Inkrafttreten der Preußischen Landgemeinde-Ordnung im Jahre 1892 nur Mitglieder der Brüdergemeine eine Zuzugsgenehmigung direkt nach Niesky erhielten, siedelten sich die Angestellten mit ihren Familien außerhalb der Ortsgrenzen an. Die Vororte Neuödernitz, Neusärichen und Neuhof verzeichneten so einen stetigen Bevölkerungszuwachs. In diesen Vororten entstanden auch die Werks- und Musterhaussiedlungen der Christoph & Unmack AG.

Fast 100 Holzbauten, verteilt auf verschiedene Siedlungen, verleihen Niesky heute ein besonderes Flair und locken zahlreiche Touristen in die Stadt. Diese Gebäude wurden in den 1920/30er-Jahren von der Holzbaufirma Christoph & Unmack serienmäßig produziert und in zahlreichen Werbebroschüren vorgestellt. Gleichzeitig dienten sie als Werkswohnungen. Mit komfortablem Wohnraum wollte man einen festen Stamm an qualifizierten Facharbeitern langfristig an die Firma binden. Heute führt eine touristische Entdeckungsroute "Holzhauspfad" zu den im Charakter einer Gartenstadt angelegten Siedlungen mit Ein- und Mehrfamilienhäusern für Arbeiter und Angestellte, Villen für höhere Beamte und Direktoren, Pfarrkirche, Kindergarten, Verkaufspavillon und Bürogebäuden.

Die Nieskyer Holzbaufirma Christoph & Unmack galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als größte Fabrik Europas für industriell vorgefertigte Holzbauten. Das werkseigene Architekturbüro konstruierte die meisten der angebotenen Typen selbst, arbeitete aber auch mit so namhaften Architekten wie Hans Scharoun, Henry van de Velde, Albinmüller, Hans Poelzig oder Fritz Breuhaus zusammen. Mit dem Werbeslogan "Preiswert-Dauerhaft-Wärmedämmend-Zweckmäßig-Modern" präsentierten Christoph & Unmack ihr vielfältiges Angebot in Musterhauskatalogen, auf Messen und Ausstellungen für Kunden auf der ganzen Welt. Innerhalb von wenigen Wochen erhielt der Käufer das bestellte Produkt schlüsselfertig übergeben.

Der als "Pionier des industriellen Bauens" international bekannt gewordene Architekt Konrad Wachsmann arbeitete von 1926 bis 1929 als leitender Architekt in der Holzbauabteilung von Christoph & Unmack. Rückblickend erinnerte er sich an seinen Karrierestart: "Es wurde der entscheidendste Schritt meines Lebens. Eben hatte ich in Paris noch voller Verzweiflung nach meinem Weg gesucht. Und hier, mitten auf dem Lande, in der tiefsten Provinz, fand ich seine erste Spur. In den Holzhallen der Fabrik öffnete sich mir die Welt der Maschinen, der Technologien, der Anfänge des industriellen Bauens. Alles, was dann kam und in Berlin, New York, Tokio, Chicago, London, Moskau, Paris, Rom, Zürich oder Warschau geschah, das alles begann in Niesky" (*). Der junge Architekt wirkte entscheidend an der Weiterentwicklung der Holzbautechnologien mit und verhalf Christoph & Unmack zur technischen und ästhetischen Perfektion ihrer Bauten. Den wohl prominentesten Auftrag bekam Wachsmann 1929, als er gemeinsam mit der Nieskyer Holzbaufirma das Sommerwohnhaus für Albert Einstein in Caputh errichtete.

Das berühmteste Nieskyer Holzhaus steht am Eingang der ehemaligen Beamtenwohnsiedlung auf der Goethestraße.
Es wurde 1927 nach einem Entwurf von Konrad Wachsmann für einen Direktor der Christoph & Unmack AG gebaut. Mit seinem Erstlingswerk hat der Architekt Niesky zu einem Baudenkmal von internationalem Rang verholfen. Das industriell vorgefertigte Blockhaus beeindruckt durch seine sachliche, am Bauhaus orientierte Formensprache. Seit seiner Sanierung im Jahr 2014 lädt das Konrad-Wachsmann-Haus als Ausstellungs-, Kultur- und Forschungsforum für Holzhausbau Gäste aus der ganzen Welt zum Erkunden ein. Gemeinsam mit den Holzbauten im Stadtgebiet demonstriert es die architektonische Vielseitigkeit und den hohen technischen Stand der Nieskyer Holzbaufirma als Wegbereiter für den Fertighausbau.

Im Jahre 1935 erhielt Niesky das Stadtrecht. Sechs Jahre zuvor kam es zum Zusammenschluss mit den Vororten Neuhof, Neusärichen und Neuödernitz zu Groß-Niesky. Zu diesem Anlass suchten die Gemeindevertreter ein aussagekräftiges Stadtwappen. Sie entschieden sich für Kreuz und Hammer über der dreizinnigen, goldenen Mauer, dem Symbol der Oberlausitz. Damit wurden die prägenden Punkte der Ortsgeschichte auf einen Blick zusammengefasst: Christlicher Glaube und die Entwicklung der Industrie verhalfen dem kleinen Ort in der Oberlausitz zu Weltruf.

Eva-Maria Bergmann
Leiterin Museum Niesky

(*) Das Originalzitat von Konrad Wachsmann kann man nachlesen in: Grüning, Michael: Der Wachsmann-Report-Auskünfte eines Architekten, Birkhäuser Verlag, 2001