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Von der "Schnittstelle der Systeme" in die Mitte Europas

Autoren: Werner Keller / Matthias Roeper

Eine Meldung, die am 17. August 1989 über die Ticker der großen Nachrichtenagenturen lief, irritierte vor 35 Jahren Sicherheitsbehörden und Politiker gleichermaßen: Von hessischem Boden aus waren 90 Schüsse über die Werra auf die DDR-Gemeinde Wahlhausen abgegeben worden. Niemand konnte sich erklären, ob es sich um einen Anschlag oder um einen Dumme-Jungen-Streich handelte. Die DDR-Medien schlachteten das Ereignis weidlich aus, denn in der sich verschärfenden Staatskrise kam den Verantwortlichen in der DDR dieser Zwischenfall, als "westdeutsche Provokation" deklariert, höchst gelegen. Der Vorfall wurde übrigens nie aufgeklärt und die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass die Schüsse von der DDR-Staatssicherheit inszeniert wurden, um von den akuten innenpolitischen Problemen im östlichen Teil Deutschlands abzulenken.

Die Schüsse von Wahlhausen wurden zu einer Fußnote der großen Geschichte und stehen fast schon symbolisch für das Schlusskapitel der deutschen Teilung, die die Menschen im Werra-Meißner-Kreis so lange von ihren thüringischen Nachbarn getrennt hatte.

In den Kreisen und Städten jenseits des Eisernen Vorhangs nahm der "Druck im Kessel" während des gesamten Jahres 1989 immer mehr zu - überall begannen die Menschen aufzubegehren und waren nicht mehr bereit, die SED-Diktatur widerspruchslos hinzunehmen. In der gesamten Region zwischen Heiligenstadt, Mühlhausen und Eisenach begannen sich Umwelt-Aktivisten und kirchliche Gruppen zu organisieren und wurden zu Keimzellen einer immer größer werdenden Reformbewegung. Als in Leipzig und Ostberlin Zehntausende auf die Straße gingen, demonstrierten auch die Menschen in Heiligenstadt und Mühlhausen.

Es kam der 9. November 1989: Nach der legendären Pressekonferenz des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski in Ostberlin zur Reisefreiheit setzte nicht nur ein Ansturm auf die Sektorengrenze in Berlin ein, sondern auch auf den einzigen hessischen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Um Mitternacht brachte das HR-Fernsehen bereits Bilder von Trabi-Kolonnen, die sich in Richtung Eisenach zurückstauten. Am darauffolgenden Freitag herrschte in Eschwege der Ausnahmezustand: Überall strömten Besucher aus der DDR in Kaufhäuser und Geschäfte, Stadtverwaltung und Banken organisierten die Auszahlung des Begrüßungsgeldes: Einhundert D-Mark pro Kopf waren viel Geld für Menschen aus dem anderen Teil Deutschlands.

Überall gab es Hilfsbereitschaft ohne Grenzen, Privatleute reichten Kaffee und Kuchen, die Kirchengemeinden richteten in aller Eile Verpflegungsstationen ein, um die zahllosen Gäste zu versorgen. Während es in den meisten anderen Orten des Kreises noch ruhig blieb, herrschte in der Kreisstadt am Abend des 11. November bereits eine Art Volksfeststimmung: Die Menschenmassen aus dem Osten strömten durch die Einkaufsstraßen und alle gemeinsam bejubelten das Ende der unmenschlichen Grenze.

Der Zaun bekommt Löcher
12. November 1989: Mitten in der Nacht rückten bei Hohengandern im Norden und Wanfried im Süden Arbeitskommandos an. Zunächst waren nur punktförmig die Scheinwerfer von Baufahrzeugen zu erkennen, die sich Meter für Meter nach Westen vorarbeiteten. Es galt, binnen weniger Stunden jahrzehntelang unterbrochene Straßenverbindungen provisorisch wieder herzustellen. Waren es am Arnstein zunächst nur einige wenige Schaulustige und Angehörige von Zoll und BGS, die die Aktion beobachteten, sprach sich die Nachricht vom bevorstehenden Fall der Grenze bis zum Vormittag wie ein Lauffeuer in den angrenzenden Städten und Dörfern herum. Immer mehr Menschen strömten an diesem sonnigen Spätherbsttag in Richtung Grenze.

Der Zeiger der Uhr stand bei 12.25 Uhr, als auch hier der Jubel im wahrsten Sinn des Wortes "keine Grenzen" mehr kannte: Der erste Trabi aus Thüringen rollte auf den neuen Übergang zu, Sekt und Tränen flossen gleichzeitig, und der Posaunenchor aus Witzenhausen intonierte "Lobet den Herren". Auch der damalige Hessische Ministerpräsident Walter Wallmann und die Verantwortlichen des Werra-Meißner-Kreises ließen es sich nicht nehmen, diesen historischen Moment direkt an der nunmehr offenen Grenze zu erleben.

Spätestens mit dem 12. November 1989 änderte sich das Leben im bis dahin beschaulichen und abgeschiedenen Werra-Meißner-Kreis: Von nun an strömten täglich die Fahrzeugkolonnen nach Hessen und - in einem etwas bescheideneren Ausmaß - auch in östliche Richtung, denn wer im kleinen Grenzverkehr ein Visum hatte, konnte die DDR-Nachbarkreise besuchen. Der früher so penible DDR-Zoll beschränkte sich auf stichprobenhafte Kontrollen, vor allem, um das Schmuggeln subventionierter Waren in den Westen zu unterbinden.

Am Abend des 17. November 1989 überbrachte eine Streife des BGS Bürgermeister Rolf Jenther während der Einweihungsfeier des neuen Kurmittelhauses in Bad Sooden-Allendorf unter dem Jubel der Gäste die Nachricht, dass am nächsten Tag ein Grenzübergang für Fußgänger bei Wahlhausen geöffnet werden sollte.

18. November, kurz vor 6 Uhr früh: Von Wahlhausen her leuchtete den Menschen ein Spruchband entgegen: Willkommen! Die Parforcegruppe des Reitervereins Bad Sooden-Allendorf spielte "Ich bete an die Macht der Liebe" - den Menschen ging es durch und durch. Wenige Minuten später setzte sich eine große Menschenmenge aus Richtung Bad Sooden-Allendorf nach Wahlhausen in Bewegung. In einer Kantine der dortigen LPG wurden die Hessen mit Mett und Kaffee bewirtet.

Hilfe für die Nachbarn
Die folgenden Wochen - die Grenze erhielt immer mehr Schlupflöcher - wurden dazu genutzt, zahlreiche Ost-West-Kontakte zu knüpfen: In Stadtverwaltungen und Krankenhäusern, Schulen und Hochschulen gab es Besuch aus der DDR. Patenschaften bahnten sich an. So wurde z. B. noch im Dezember 1989 die Partnerschaft zwischen Mühlhausen und Eschwege besiegelt, ein Projekt, das schon lange vor der Wende angeschoben worden war. Aus der geplanten Städteverbindung zwischen Witzenhausen und Heiligenstadt wurde nichts mehr, doch die beiden Städte pflegen seitdem eine herzliche Nachbarschaft. Witzenhäuser Verwaltungsbeamte halfen den Eichsfelder Nachbarn beim Aufbau moderner Stadtwerke und einer neuen Stadtverwaltung, Bad Sooden-Allendorfer Experten bei der Wiederbelebung des Kurbetriebes. Die Hilfe aus Hessen lief für die thüringischen Nachbarkreise auf vielen Ebenen an. Die Feuerwehren aus dem Werra-Meißner-Kreis überließen ihren Kameraden modernere Fahrzeuge, die Polizei schickte Funkstreifenwagen und die Bürgermeister des Werra-Meißner-Kreises vermittelten modernes Verwaltungswissen.

Es sollte noch dauern, bis das Floß über die Werra ausgedient hatte und die zerstörte Werra-Brücke bei Lindewerra wieder aufgebaut wurde, um Hessen und Thüringen auch hier wieder zu verbinden.

Das Haupthindernis einer noch intensiveren grenzübergreifenden Zusammenarbeit bildeten, neben den auf DDR-Seite äußerst schlechten Straßenverhältnissen, die an allen Ecken und Enden fehlenden Telekommunikationsverbindungen: So gab es allein in der Kreisstadt Mühlhausen 1990/1991 einen Stau von 3000 Anträgen auf einen Fernsprechanschluss, von Verbindungen nach Hessen ganz zu schweigen. Als im Mai 1990 fünfundzwanzig neue Leitungen zwischen Mühlhausen und Eschwege geschaltet wurden, war dies eine deutlich spürbare Erleichterung.

Verkehrslawine und geplatzte Träume
Schnell versuchten auch hessische Unternehmen, in Thüringen Fuß zu fassen: Eschweger Bier war bald auch in den Läden und Märkten von Konsum und HO in Mühlhausen zu bekommen und ab dem Januar 1990 lieferten die regionalen Zeitungen ihre Ausgaben in die DDR-Nachbarkreise. West-Produkte standen damals dort hoch im Kurs.

Allerdings hatte auch diese Medaille ihre Kehrseite: Mit der Eröffnung neuer Übergänge wälzten sich täglich nicht enden wollende Fahrzeugkolonnen aus der DDR über die Bundesstraßen 7, 27, 80 und 249 nach Westen. Zwar profitierten von diesen Besucherströmen auch im Werra-Meißner-Kreis viele - vor allem die Kreisstadt Eschwege als Einkaufsstadt und Handelszentrum -, aber auf den Straßen schnellte ab 1990 die Zahl der, leider auch tödlichen, Verkehrsunfälle als Folge des drastisch gestiegenen Fahrzeugaufkommens rasant nach oben. Letztlich waren viele Straßenstücke für solche Mengen an Kraftfahrzeugen gar nicht ausgebaut.

Die Wiederherstellung aller früheren Verkehrsverbindungen war denn auch zentrales Thema der ersten Grenzkonferenz im Januar 1990. Dazu reisten Landrat Dieter Brosey, etliche Behördenleiter und die Vertreter der Grenzstädte und -gemeinden nach Geismar ins Südeichsfeld.

Im Kulturhaus Florian Geyer wurde über die Probleme diskutiert, die sich wenige Wochen nach der Öffnung der Grenze am Horizont abzeichneten. Dazu gehörte die Sicherheit auf den Transitstraßen: Feuerwehren und Schnelle Medizinische Hilfe (SMH) in der DDR schienen für größere Einsätze unzureichend gerüstet. Zwar saßen ranghohe Offiziere der DDR-Grenztruppe mit am Tisch, nicht aber BGS und Zoll aus der Bundesrepublik.

Waffen- und Uniformträger waren nicht erwünscht und mussten am eigens hergerichteten Übergang Großtöpfer umkehren. Im Grunde genommen schlug in Geismar die Geburtstunde der späteren Kreiskonferenzen zwischen den Landkreisen Werra-Meißner, Göttingen und Eichsfeld, die an wechselnden Orten bis heute stattfinden.

Der letzte fahrplanmäßige Zug von Eichenberg nach Arenshausen verkehrte am 24. Juli 1945. Seitdem war der Bahnverkehr - erst zwischen der amerikanischen und sowjetischen Zone, dann zwischen der Bundesrepublik und der DDR - unterbrochen. Die Gleise nach Osten führten ins Nichts und endeten über Jahrzehnte an einem hölzernen Rammbock: Endstation der einst so stark befahrenen Bahnlinie und gleichzeitig auch das "Aus" für Eichenberg als Bahnknotenpunkt.

Im Nachhinein mutet es schon fast sensationell an, mit welcher Weitsicht Reichs- und Bundesbahn schon am 23. November 1989 über eine Grenzöffnung auch auf den Schienen der historischen Eisenbahnstrecke Kassel-Halle verhandelten. Sogar die Frage der Elektrifizierung wurde in diesem Kontext bereits geprüft. Am 31. Dezember 1989 kündigte DB-Chef Reiner Gohlke an, dass mit Fahrplanwechsel im Mai 1990 der Übergang Eichenberg-Arenshausen eröffnet werden solle.

Schon in den ersten Januartagen rückten Baumaschinen und Arbeiter an, um die Trasse für den Lückenschluss freizuschlagen und am 26. Mai 1990 rollte dann endlich der erste Zug wieder von Thüringen nach Hessen. Es war der Traditionszug "Zwickau" der Deutschen Reichsbahn, der mit Politprominenz und diversen Staatsgästen an Bord von Arenshausen kommend in Eichenberg einfuhr. Zur Feier des Tages stiegen tausend Ballons in den Himmel und für den Zugverkehr ins nahe Eichsfeld sowie weiter nach Nordhausen bzw. Halle gab es einen eigenen Bahnsteig mit Kontrollstellen von BGS und Zoll.

Neu-Eichenbergs Bürgermeister Gerhard Hannich (SPD, Verwaltungschef von 1971-1995, gestorben 2012) war ein Mann vorausschauender Planung: Das Konzept für den Ausbau des Grenzüberganges Eichenberg/Hohengandern im Zuge der B 80 hatte er Anfang 1990 bereits im Kopf. Dazu gehörten Ver- und Entsorgungsleitungen von Eichenberg-Bahnhof zum Alten Holz, Parkplätze, Toiletten. Die seit Jahrzehnten unterbrochene Straße nach Hohengandern war nur provisorisch hergerichtet und bedurfte des Ausbaus. In den ersten Monaten des Jahres 1990 war die Route stark befahren, denn seit Weihnachten gab es die Reisefreiheit auch in östliche Richtung. Die "Organe" der DDR kontrollierten nur mehr sporadisch.

Auf der großen politischen Bühne gewann die Wiedervereinigung immer mehr Fürsprecher und man diskutierte nicht mehr das "ob", sondern nur noch das "wie" und "wann". Am 30. Juni 1990 waren die Tage der Grenzübergänge zwischen Thüringen und Hessen und damit auch der Kontrollstellen Eichenberg/Hohengandern, Wanfried/Katharinenberg und Netra/Ifta gezählt. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wurden sie überflüssig. Die Anlagen, zumeist in Containern, wurden zurückgebaut und ungehindert rollte nun der Verkehr wieder zwischen den Kreisen Werra-Meißner, Heiligenstadt/Worbis und Eisenach (später: Eichsfeldkreis bzw. Wartburg-Kreis).

Die Gemeinde Neu-Eichenberg, allen voran ihr Bürgermeister Gerhard Hannich und sein Nachfolger Wolfgang Fischer (SPD, Bürgermeister von 1995-2012), hatte sich schon Mitte der 80er Jahre für die Wiedereröffnung der unterbrochenen Bahnlinie eingesetzt. Nun schien die Renaissance des Bahnknotenpunktes Eichenberg, der in Spitzenzeiten Hunderten von Menschen Arbeit gegeben hatte, tatsächlich zum Greifen nah. Doch diese Träume platzten schnell: Zum einen entfiel durch die Deutsche Einheit die Kontrollstelle auf der Schiene, zum anderen bereiteten Stadt und Landkreis Göttingen gemeinsam mit der Deutschen Bahn den Bau der sogenannten "Göttinger Kurve" vor, durch die die Züge aus Südniedersachsen direkt nach Heiligenstadt/Leinfelde und weiter nach Erfurt fahren konnten - ein Halt in Eichenberg war überflüssig geworden.

Immerhin hat sich zumindest die traditionsreiche Strecke Kassel-Halle über Eichenberg etabliert. Die Gemeinde Neu-Eichenberg hat allerdings davon keinen Nutzen - im Gegenteil, das Empfangsgebäude ist verödet und die Pläne für die Modernisierung des Haltepunktes harren noch immer ihrer Verwirklichung.

Im Zeichen der deutschen Einheit
Mit dem Fall der Grenze - die Sperranlagen wurden nach und nach überall abgebaut - eröffneten sich neue Ziele für den Tourismus: Die Wartburg bei Eisenach lag nun quasi vor der Haustür, die Burgruine Hanstein eroberte sich ihren alten Einzugsbereich zurück und wurde wieder zum attraktiven Ziel für Touristen aus der Region Kassel/Göttingen/Erfurt.

Darüber hinaus waren viele Ziele beiderseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs für die Menschen in Ost wie West plötzlich wieder erreichbar: Ob nun der der Normannstein bei Treffurt und das Städtchen selbst, die Creuzburg, der Meißner oder auch der Ludwigstein und Schloss Berlepsch - sie alle wurden wieder zu beliebten Ausflugszielen für Besucher aus Hessen und Thüringen.

Kulturhistorisch hat das Eichsfeld mit seiner streng katholischen Tradition einen besonderen Rang: Herausragend bei den Wallfahrtsstätten sind der Hülfensberg, Klüschen Hagis und Etzelsbach. Die Anlagen des Franziskaner-Klosters Hülfensberg, einst im Sperrgebiet gelegen, sind nach und nach hergerichtet worden. Tourismus-Konzepte machen nicht an Verwaltungsgrenzen halt, wie der Werratal-Radweg zeigt: Er führt mit seinen zahlreichen romantischen Abschnitten durch Thüringen, Hessen und Niedersachsen und hat sich mittlerweile zu mehr als nur einem Geheimtipp unter Deutschlands Velo-Fahrern entwickelt.

Mit dem Fall der Grenze eröffneten sich für die Wirtschaft des Kreises völlig neue Chancen: Der Handel etwa in der Kreisstadt Eschwege konnte an frühere Zeiten anknüpfen und seinen Einzugsbereich in die thüringischen Nachbarkreise erweitern.

Industriebetriebe wie Rege-Motorenteil, SCA, Friedola oder Plastoreg zog es mit Zweigwerken nach Osten - günstige Grundstücke und eine höhere Förderung sowie ein großes Arbeitskräftereservoir machten es möglich. Als Paradebeispiele für solche Industrieansiedlungen im großen Stil können in Eisenach die Unternehmen Opel, BMW und Bosch gelten.

Ein knappes Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung bleibt allerdings auch festzustellen, dass es für den Werra-Meißner-Kreis schwerer geworden ist, Investoren zu gewinnen und - dies als Folge des Fördergefälles zu Thüringen - selbst heimische Betriebe vor Ort zu halten.

Beispielhaft für diese Entwicklung stehen die Bemühungen der Stadt Hessisch Lichtenau, die Fleischfabrik der Kaufland-Kette mit 350 Arbeitsplätzen im Stadtgebiet anzusiedeln. Der Versuch scheitertete und die Kaufland-Manager entschieden sich für das neue Gewerbegebiet in Heiligenstadt, fast direkt an der neuen Autobahn 38 und gefördert durch das Land Thüringen. Getreu dem Motto, wo schon was ist, kommt immer noch mehr hin, haben sich rund um das Werk mehrere andere Betriebe niedergelassen. Beispiele sind Leitec und Würth.

Große Hoffnungen richteten sich im nördlichen Werra-Meißner-Kreis auf den in Neu-Eichenberg geplanten Magnapark - mehrere tausend Arbeitsplätze im Bereich Logistik waren im Gespräch. Das Projekt war trotz nicht geringen Widerstandes aus der Bevölkerung weit gediehen, scheiterte aber letztlich nach langem Planungsvorlauf. Unter dem Eindruck einer globalen Wirtschaftskrise machte der englische Investor einen Rückzieher.

Der Ruf nach neuen Verkehrswegen
Es war im Jahr 1970, als Eschweger Geschäftsleute, vertreten durch die Werbegemeinschaft EWG, mit einer Resolution an die Öffentlichkeit gingen: Die Unternehmer forderten den Bau der Autobahn Kassel-Herleshausen und die Wiederaufnahme einer Planung, die bereits auf die Zeit vor dem Krieg zurückging. Man versprach sich insbesondere von der besseren Anbindung des Eschweger Raumes einen Aufschwung für Handel und Industrie und hatte dabei die südliche Nachbarstadt Bad Hersfeld im Blick.

Damals verhallte die Forderung, erhielt dann aber mit dem Fall der Grenze ungeahnte neue Aktualität. Die tägliche Verkehrslawine im Ost-West-Verkehr vor Augen, die sich über die B 7 und B 27 sowie die B 80 und die B 249 wälzte, wurden die unterschiedlichsten Lösungsansätze der drängendsten Verkehrsprobleme diskutiert.

Viele Gemeinden im Werra-Meißner-Kreis an den West-Ost-Bundesstraßen litten unter Schwerlast- und PKW-Verkehr. Die B 7 im südlichen und die B 80 im nördlichen Kreis wurden plötzlich zu Hauptverbindungswegen im Ost-West-Verkehr und Gemeinden wie Schwebda, Frieda, Wanfried, Bischhausen und Oettmannshausen litten unter der immer größer werdenden Fahrzeugflut.

Speziell im Nachwende-Jahr 1990 spitzte sich die Situation auf den Straßen des Werra-Meißner-Kreises dramatisch zu. Die Polizei zählte 55 Verkehrstote, was einen noch nie dagewesenen Negativrekord darstellte. Zum Vergleich: Aktuell waren in den letzten Jahren niemals mehr als zehn Verkehrsopfer pro Jahr zu beklagen.

In dieser Situation wurden vielerorts die Bürger initiativ. Entlang der B 7 begann die Diskussion um mögliche Ausbauvarianten, im Sommer 1990 blockierten Umweltschützer die B 27 bei Bad Sooden-Allendorf, und im Herbst des gleichen Jahres forderten die Einwohner des Großalmeröder Stadtteils Trubenhausen das Ende der unerträglichen Verkehrssituation und endlich den Bau einer Ortskernumgehung.

In gewissem Maße konnte man zumindest die Unfallentwicklung durch eine bessere Verkehrslenkung, konsequentere Überwachung und bauliche Maßnahmen beeinflussen, aber um das Problem generell in den Griff zu bekommen, waren große Lösungen notwendig - sprich Ortsumgehungen -, insbesondere auch um die betroffenen Anwohner von Lärm und Gestank zu entlasten. Als erste Ortslage profitierte im Zuge der B 249 die Stadt Wanfried, dann durch den Bau eines Teilstücks der A 44 der Hess. Lichtenauer Stadtteil Walburg und das arg in Mitleidenschaft gezogene Trubenhausen. Andere Gemeinden (Frieda) sollen folgen.

Mit dieser "Nach-Wende-Thematik" nur mittelbar im Kontext stand der Bau des 530 m langen "Schürzeberg-Tunnels" bei Oberrieden, der am 12. September 1992 vom damaligen hessischen Verkehrsminister Ernst Welteke seiner Bestimmung übergeben wurde. Vier Jahre hatten die Bauarbeiten an der 46 Mio. DM teuren Oberrieder Ortsumgehung gedauert, deren Kernstück, der Tunnel, allein über 30 Mio. DM verschlang.

"Endlich hat es ein Ende mit Lärm und Gefährdungen in Oberrieden", sprach der Minister aus, was in diesem Moment alle empfanden. Welteke rekapitulierte noch einmal die Geschichte des Baus, der 1986 mit dem Planfeststellungsverfahren begonnen hatte und mit dem ersten Tunnelanschlag am 21. September 1990 in die "heiße Phase" getreten war. Für die Stadt Bad Sooden-Allendorf erinnerte Bürgermeister Erich Giese noch einmal an den jahrelangen Kampf der Oberrieder um die Umgehungsstraße, die letztlich das Leben in ihrem Dorf wieder lebenswert machte.

Die neue Verbindung durch den Tunnel besaß noch einen weiteren positiven "Nebeneffekt": Die Fahrtzeit von Witzenhausen nach Bad Sooden-Allendorf wurde fast halbiert - wieder war, wie schon nach dem Ausbau der B 27 zwischen Bad Sooden-Allendorf und Eschwege (1983/1984), der Werra-Meißner-Kreis ein bedeutendes Stück näher zusammen gerückt.

Dauerthema Autobahnbau
Als zentrales - und vor allem konfliktbeladenes - Thema innerhalb der Diskussionen um die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur zwischen Hessen und Thüringen kristallisierte sich sehr schnell die Verlängerung der A 44 von Kassel bis zum Anschluss an die A 4 in Herleshausen heraus. Erste Überlegungen zum Bau dieser Strecke gab es schon im Netzplan des Jahres 1927, der eine Autobahnverbindung Dortmund-Kassel-Erfurt mit Anbindung an die Strecke Frankfurt-Leipzig-Dresden-Breslau vorsah. Für die Strecke Kassel-Eisenach wurden Entwürfe erarbeitet und zum Bau freigegeben. Kriegsbedingt kam es jedoch nicht mehr zum Baubeginn. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zwar die Autobahn Dortmund-Kassel gebaut, ihre Weiterführung nach Herleshausen besaß jedoch wegen der Grenze keine Priorität.

Ortsumgehungen zur Entlastung der Anwohner, insbesondere im Zuge der B 7 oder die Weiterführung der Autobahn? Das war die zentrale Frage, die Anfang der 90er Jahre politisch heftig diskutiert wurde. Der Lückenschluss wurde schließlich 1991 mit der Nummer 15 in die "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" aufgenommen. "Während andere Verkehrsprojekte Deutsche Einheit zügig umgesetzt wurden, gestalteten sich die Planungen für die A 44 schwierig", heißt es in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia.

Im Ergebnis wurde die vor dem Krieg aufgestellte Planung verworfen und die Strecke nicht durch die Söhre, sondern durch das Losse- und Wehretal geführt. Knapp 70 km lang ist die A 44 zwischen Kassel und Herleshausen und wird - wenn sie denn fertig gestellt ist - etwa 1,5 Mrd. Euro gekostet haben. Ein Vierteljahrhundert nach der Grenzöffnung sind lediglich gut 6 km bei Walburg befahrbar, jedoch weitere Abschnitte zwischen Kassel und Hessisch Lichtenau und zwischen Walburg und Waldkappel in Arbeit.

Klagen von Naturschutzverbänden mit aufwändigen Gerichtsprozessen hatten für jahrelange Verzögerungen gesorgt. Zeitweise gab es sogar einen Baustopp, um die Planung im Sinne des Naturschutzes nachzubessern. Im 40. Jahr des Bestehens des Werra-Meißner-Kreises ist die A 44 größtes Infrastruktur-Projekt der Region Nordhessen. Die Landschaft zwischen der Kreisgrenze bei Helsa und der Landesgrenze bei Herleshausen erlebt ihre größte Veränderung. Aufwändige Brücken- und Tunnelbauten sind landschaftsbedingt eine Herausforderung für die Ingenieure. Wann der Verkehr endlich von Kassel bis Herleshausen über die fertige Autobahn fahren wird, ist aktuell leider immer noch nicht endgültig vorhersehbar.

Mit einem gewissen Neid können die Erbauer der A 44 (Lückenschluss) nach Norden blicken: Die Planung für die Südharzautobahn A 38 (Verkehrsprojekt deutsche Einheit Nr. 13) kam zwar später in Gang, wurde aber trotz einiger regionaler Widerstände deutlich schneller verwirklicht. Die A 38 verbindet die A 7 bei Göttingen mit dem Raum Leipzig und hat eine Länge von insgesamt 219 km, wobei der Heidkopftunnel an der Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Thüringen mit 1,7 km Gesamtlänge das größte Einzelbauwerk der Gesamtstrecke darstellt.

Die A 38 verläuft in unmittelbarer Nähe des Werra-Meißner-Kreises, führt in der Gemarkung des Neu-Eichenberger Ortsteiles Marzhausen auf 1,6 km durch Kreisgebiet und ist damit auch zu einem wichtigen neuen Standortfaktor für die Wirtschaft in der Region geworden.

Die Planungshoheit lag beim Bau der A 38 in Händen der fünf von der Trassenführung betroffenen Bundesländer und, anders als bei der A 44 ( Land Hessen), ging der Bund hier einen Sonderweg: Die Deutsche Einheit Fernstraßen-Planungsgesellschaft (DEGES) war federführend verantwortlich für Planung und Bau der Autobahn. Seit dem 22. Dezember 2009 rollt der Verkehr ungehindert nach Osten. Die Industrieregion Halle/Leipzig ist nun aus der Region Kassel/Göttingen schneller erreichbar.

Aus für Traditionsindustrien
Von dem Fall der Grenze und der Wiedervereinigung relativ unabhängig zu sehen ist der Niedergang der Traditionsindustrien im Werra-Meißner-Kreis. Zwar wurde dessen Geschwindigkeit durch den Wegfall von Grenze und dem dadurch bedingten Ende der Zonenrandförderung noch beschleunigt, war aber letztlich Folge des allgemeinen Strukturwandels und globaler Entwicklungen.

Stark in Mitleidenschaft gezogen wurden besonders Eschwege und Witzenhausen: Die Kreisstadt verließ der Landmaschinenhersteller Massey Ferguson, Paradebeispiel der Zonenrandförderung, und mit Pacoma blieb nur ein kleiner Teil zurück. Das Vertriebszentrum MF-AGCO war dann zwar noch einige Jahre im Verbund mit der DEULA in Witzenhausen präsent, ehe es 2007 nach Marktoberndorf in Bayern verlegt wurde. Ebenso verabschiedete sich der Pharma-Hersteller Woelm in Richtung Spanien aus der Kreisstadt und auch die Nachfolgefirma Jul-Phar konnte sich nicht halten.

Verschwunden sind, hauptsächlich in Witzenhausen, viele hundert Arbeitsplätze in der Möbel- und Textilindustrie - hier besaßen die Namen wie Jaeger, Steinfeld (Möbel) und JORA (Textil) jahrzehntelang einen guten Klang. Vergebens sucht man auch die ehedem blühende Zigarrenindustrie - hier schloss mit Leopold Engelhardt u. Co. im September 1990 die letzte und gleichzeitig bedeutendste Fabrik ihre Tore. Nur die museale Herstellung von Kautabak durch die vor 1945 im thüringischen Nordhausen beheimatete Firma Grimm & Triepel erinnert in Witzenhausen noch an die große Zeit der Tabakindustrie in der Region.