Von der Stunde "Null" zur Gebietsreform
Autor: Matthias Roeper
"Gebt mir zwölf Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wieder erkennen", hatte Adolf Hitler in einer seiner Sportpalastreden Anfang 1933 verkündet. Und in der Tat, nach dem 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, war das Land nicht mehr wiederzuerkennen. Gemäß den Vereinbarungen, die die Anti-Hitler-Koalition am 11. Februar 1945 auf der Halbinsel Krim getroffen hatte, wurde das Deutsche Reich in vier Besatzungszonen aufgeteilt und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie unter russische und polnische Verwaltung gestellt.
Nach den Ereignissen des letzten Kriegswochen gehörte das heutige Kreisgebiet zur amerikanischen Zone und das erste Plakat, das in den Rathäusern und Häuserwänden zwischen Herleshausen und Ziegenhagen erschien, war die berühmte "Proklamation Nr.1" Dwight D. Eisenhowers, deren entscheidende Passage die Zukunft der bisherigen Machthaber betraf: "Wir kommen als ein siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker. In dem deutschen Gebiet, das von den Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben."
Weiterhin wurde der Bevölkerung mitgeteilt, dass die Ausgangsbeschränkung von 19 bis 6 Uhr festgesetzt sei. In dieser Zeit durften Zivilisten, ausgenommen Ärzte und Angehörige ähnlicher Berufe, ihre Häuser nicht verlassen. Darüber hinaus durfte sich niemand aus dem jeweiligen Gemeindegebiet weiter als sechs Kilometer entfernen, es sei denn, er besaß einen Passierschein. Eisenbahnen - so sie denn überhaupt fuhren - und Privatfahrzeuge durften ohne besondere Erlaubnis nicht benutzt werden, Ansammlungen von mehr als fünf Personen waren verboten.
Am 21. Mai 1945 wurden Wolfgang Hartdegen und Fritz v. Coelln, letzterer seit Mitte April Bürgermeister der Kreisstadt Witzenhausen, von der alliierten Militärregierung zu den ersten Nachkriegslandräten der damaligen Kreise Eschwege und Witzenhausen berufen - das "normale" Leben lief wieder an, die Konturen des Kommenden begannen sich abzuzeichnen.
Gemeinsam mit vielen anderen überall im Land, die, wenn sie auch nicht ausgewiesene Gegner der Nationalsozialisten gewesen waren, doch zumindest den Verlockungen der NS-Partei widerstanden hatten, gingen diese Männer und Frauen der ersten Stunde an die Errichtung eines demokratischen Staatswesens und den Wiederaufbau.
Es war ein Wiederaufbau mit vielen Fragezeichen, der zudem von den Siegermächten - auch den Westalliierten - anfangs mit erheblichem Argwohn beobachtet und keineswegs immer nur unterstützt wurde. Und es war ein Wiederaufbau, der alle noch vorhandenen Kräfte der Besiegten bis zum Äußersten beanspruchte und die, die sich engagierten, vor fast unlösbare Probleme stellte.
Deutschland, aufgeteilt in vier voneinander streng getrennte Zonen, in die hinein und aus denen heraus niemand ohne Passierschein kam; Deutschland, ohne einheitliche staatliche Verwaltung und Regierung, ohne Güter- und Personenverkehr, mit tausenden zerstörter Brücken, Bahnhöfen und 2,25 Mio. zerstörter Wohnungen, ohne Industrie, Rohstoffe, Nahrung, der größte Teil seiner Männer hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager - soweit sie nicht verwundet, gefallen oder verschollen waren - ein Land mit Nahrungsmittelrationen von 1150 Kalorien täglich, in das nun auch noch Millionen von Flüchtlingen einströmten - dieses Deutschland also ging an seinen Wiederaufbau.
Wiedergeburt der Demokratie und Integration der Flüchtlinge
Mühsam wieder bzw. gänzlich neu aufgebaut werden mussten auch die durch zwölf Jahre NS-Diktatur fast völlig verschütteten demokratischen Institutionen. Zu den ersten demokratischen Wahlen nach dreizehn Jahren wurden die Menschen am 27. Januar 1946 an die Urnen gerufen: Überall in Großhessen entschied die Bevölkerung über die Zusammensetzung der Gemeindeparlamente.
Schon unmittelbar nach Kriegsende hatten sich aus Widerstandsgruppen und Verfolgten des NS-Regimes sogenannte "Antifaschistische Ausschüsse" gebildet, die sich mit dem vorsichtigen Aufbau einer demokratischen Parteienlandschaft im Sommer 1945 wieder auflösten. Diese Parteienlandschaft wurde von den Traditionsparteien SPD und KPD und der sich neu bildenden Christlich-Demokratischen Union (CDU) - hervorgegangen aus dem katholischen Zentrum und dem protestantisch geprägten Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) - geprägt. Hinzu kam die "Liberal-Demokratische Partei (LDP)", aus der dann die am 11. Dezember 1948 im Heppenheim gegründete "Freie Demokratische Partei" (F.D.P.) hervorging.
Diese vier, zwischen dem 13. Dezember 1945 und dem 11. Januar 1946 zugelassenen Parteien, stellten sich Ende Januar 1946 der Gemeindewahl, Ende April 1946 der Kreistagswahl, Ende Juni 1946 der Wahl zur verfassungsberatenden Landesversammlung und am 1. Dezember 1946 der Wahl zum ersten hessischen Landtag.
In den Altkreisen Eschwege und Witzenhausen wurden die Sozialdemokraten - bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 87 % - bei den Gemeinde- und Kreistagswahlen mit 54,7 % bzw. 57 % der abgegeben Stimmen die bei weitem stärkste politische Kraft und knüpften damit nach den schrecklichen Jahren von Diktatur, Demütigung und Verfolgung wieder an ihre politische Stellung an, die sie auf Landkreisebene in der Region bis zum Ende der zwanziger Jahre inne gehabt hatten.
Auch die Presselandschaft sortierte sich neu und als erste überörtliche Tageszeitung erschienen die in Kassel herausgegebenen "Hessischen Nachrichten", die ab dem 23. Januar 1946 mit dem sogenannten "Werraboten" eine besondere Beilage mit Nachrichten für die "Bevölkerung der Kreise Eschwege und Witzenhausen" präsentierte.
Ein Blick sowohl in die Presse als auch die amtlichen Dokumente jener Tage zeigt, welche Probleme damals vordringlich zu lösen waren. "Die Wohnungskommission muss", hieß es da in den Protokollen der Witzenhäuser Stadtverordnetenversammlung, "mit allen Mitteln die Sicherstellung der Wohnungen für Ostflüchtlinge durchführen" und die "Hessischen Nachrichten" erschienen am 23. März 1946 mit der Schlagzeile "Europa hungert" - um dann nur wenige Tage später ihren Lesern mitzuteilen, dass ab dem 1. April die Lebensmittelrationen von 1.550 auf 1.275 Kalorien pro Tag herabgesetzt würden.
Damit waren auch schon die Dinge benannt, mit denen die Menschen am meisten zu kämpfen hatten: Wohnungsmangel und unzulängliche Versorgungslage.
Im April 1946 trafen die ersten Heimatvertriebenen ein, wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die einzelnen Städte und Gemeinden verteilt und verschärften durch ihre bloße Anwesenheit überall die ohnehin angespannte Wohnraumsituation auf dramatische Weise.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zählte der Kreis Eschwege 51.191 und der Kreis Witzenhausen 37.860 Einwohner. Diese Zahlen erhöhten sich bis 1950 um ca. 22.000 im Altkreis Eschwege und 18.000 im Altkreis Witzenhausen, um sich dann Mitte der 60er Jahre durch Abwanderung in die Ballungsgebiete im Altkreis Eschwege bei 65.520 (plus 28 %) und im Altkreis Witzenhausen bei 52.835 (plus 39 %) Einwohnern einzupendeln.
Im Mai 1946 erreichten die Transporte ihren Höhepunkt und Hans v. Coelln, der kommissarische Landrat des Kreises Witzenhausen, informierte am 14. Mai die Bürgermeister seiner Gemeinden über weitere zu erwartende Transporte und die damit einhergehenden Schwierigkeiten:
"Ich möchte darauf hinweisen, dass grundsätzlich sich jeder Ortsansässige gefallen lassen muß, dass er bei der Einweisung von Flüchtlingen in seinem Wohnraum beschränkt wird. Der Ortsansässige wird dabei in der Regel immer noch geräumiger und besser wohnen als der Flüchtling. Über der Gewährung der Unterkunft hinaus muss den Flüchtlingen auch der notwendigste Hausrat zur Verfügung gestellt werden, ebenso Schränke oder Schrankteile, damit der Flüchtling imstande ist, seine geringe mitgebrachte Habe einigermaßen ordnungsmäßig unterzubringen. Da die Haushaltungen der ortsansässigen Bevölkerung im Gegensatz zu den Verhältnissen in anderen Kreisen von Fliegerschäden nicht betroffen wurden, dürfte in jedem Haushalt noch so viel Geschirr vorhanden sein, dass auch die Flüchtlinge noch mit versorgt werden können. Ich werde künftig bei berechtigter Klage, falls es dem Quartiergeber an dem notwendigen sozialen Verständnis fehlt, mit aller Entschiedenheit gegen die Betreffenden vorgehen."
Die Integration der neuen Mitbürger war sicher nicht einfach, aber sie gelang Schritt für Schritt. Am leichtesten konnten sich naturgemäß die Kinder mit der neuen Situation abfinden und schon im Herbst 1946 hatten sich "... die eingewiesenen Flüchtlingskinder schnell mit den hier beheimateten Kindern angefreundet. Spannungen oder gar Zänkereien sind nicht zu beobachten, was umso erfreulicher ist, da es sich um verschiedene Konfessionen handelt. Die zugewanderten Familien sind alle katholisch und die Zahl der katholischen Schulkinder stieg dadurch beträchtlich."
Eine von der Kreisverwaltung Witzenhausen Mitte der 50er Jahre in Auftrag gegebene "Kreisbeschreibung" kommt bezüglich des Zusammenlebens von "Alteingesessenen" und Heimatvertriebenen zu einem Ergebnis, das durchaus als repräsentativ auch für den damaligen Kreis Eschwege gelten kann:
"Im Laufe von sieben Jahren (1946-1953) des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der verschiedenen Bevölkerungsteile", so die Einschätzung, "hat ein gewisses Abschleifen der anfänglich auftretenden Gegensätze mit sich gebracht. Wo diese noch heute auftreten, gehen sie meist auf Wohnungsschwierigkeiten zurück. Besonders unter den Jugendlichen bestehen kaum noch Gegensätze irgendwelcher Art. Durch Heirat sind schon manche Familienbande zwischen Alteingesessenen und Neubürgern geknüpft worden. Wenn die Heimatvertriebenen also in ihrem neuen Heimatgebiet schon in weitem Umfang Wurzeln geschlagen haben, bleibt es nun Aufgabe der Planung und Verwaltung dafür zu sorgen, dass diese wertvollen Kräfte weiterhin beim Wiederaufbau der Wirtschaft und im kulturellen Leben mithelfen."
Viel dazu beigetragen hat auch der erstmals vom damaligen Ministerpräsidenten Zinn am 10. Januar 1951 verkündete "Hessenplan", - der dann im April 1965 als "Großer Hessenplan" bis in die 70er Jahre fortgeschrieben wurde - der nicht nur im Allgemeinen die Situation in dem neu gebildeten Bundesland verbessern sollte, sondern sich auch speziell der Situation der Vertriebenen annahm und diese deutlich zum Positiven wendete.
Sorgenkinder
Wirtschaftslage, Versorgung und Wohnungsnot
Nicht minder katastrophal als die Wohnungssituation stellte sich in den ersten Nachkriegsjahren die allgemeine Versorgungslage dar, die, sowieso bereits problematisch, durch die schiere Zahl vieler tausend Neubürger zu kollabieren drohte. Im Vergleich zu den letzten Kriegsjahren hatte sich der Rückgang der Nahrungsmittelproduktion noch verstärkt, denn mit den deutschen Ostgebieten standen die traditionellen Kornkammern des untergegangenen Reiches entweder unter polnischer Verwaltung oder lagen in der sowjetischen Zone. Im Westen fehlte es sowohl an Düngemitteln als auch an Saatgut, so dass die vorhandenen Anbauflächen noch nicht einmal den notwendigsten Bedarf decken konnten.
Ähnlich war die Lage auf dem Energiesektor: Kohlen standen nur den wichtigen Industrieunternehmen zur Verfügung und wenn es sie für die Allgemeinheit gab, machte es die zerstörte Verkehrsinfrastruktur nahezu unmöglich, sie zu den Verbrauchern zu transportieren. Brennholz war rationiert, und die Versorgung mit elektrischem Strom, auch damals schon für die Gesellschaft fast überlebensnotwendig, konnte nur stundenweise erfolgen.
Wer gehofft hatte, die allmähliche Normalisierung des Lebens würde auch die Energieversorgung mit einbeziehen, sah sich bitter getäuscht. Im Gegenteil: Ende Februar 1947 erreichte die Versorgung mit elektrischer Energie in der Region einen neuen Tiefpunkt. "Wegen der immer schlechter werdenden Stromversorgungslage", so der Leitartikel in den "Hessischen Nachrichten", "die aus einem akuten Kohlenmangel und durch Abfuhr von enormen Mengen Strom an ehemalige Feindstaaten entstanden ist, und um einer Katastrophe auf diesem Gebiet vorzubeugen, macht man sich Gedanken darüber, ob man ein Windkraftwerk errichten sollte."
Dieser höchst modern anmutende Vorschlag kam nicht zur Ausführung - die Versorgung mit Strom hingegen blieb mehr als mangelhaft. Besonders dramatisch gestaltete sie sich noch einmal im Winter 1948/1949, also fast vier Jahre nach Kriegsende. Am 29. Oktober 1948 wurde bekannt gegeben, dass "... die Stromversorgung in Nordhessen katastrophal geworden" sei, die "Bevölkerung mit Stromabschaltungen in noch größerem Umfang als bisher rechnen" müsse und "auch tagsüber jederzeit Ganzabschaltungen vorgenommen werden" können. Bis zum Herbst 1949 änderte sich an dieser Situation nur wenig, erst dann kam es zur langersehnte Wende zum Besseren.
"Die Nazis hatten es mit den Vitaminen, die Amerikaner mit den Kalorien, wir wollen endlich was zu Fressen", lautete ein bekannter Nachkriegsslogan. Die Versorgung, auf die hier angespielt wurde, war noch schlechter als im letzten Kriegsjahr und strengste Rationierung weiterhin unumgänglich. Die größte Gruppe der Bevölkerung, besser bekannt unter der bis heute unvergessenen Bezeichnung "Normalverbraucher", erhielt eine Mengenzuteilung, die man heute nur noch aus Fahrplänen für strenge Diäten kennt.
Der Normalverbraucher der 93. Zuteilungsperiode vom 16. September bis 13. Oktober 1946 erhielt für den Zeitraum einer Woche: 1.500 Gramm Brot, 150 Gramm Nährmittel, 3.000 Gramm Kartoffeln, 75 Gramm Fett, 62,5 Gramm Zucker, 250 Gramm Fleisch, 50 Gramm Puddingpulver, 31,25 Gramm Käse, 50 Gramm Kaffee-Ersatz sowie einen Liter entrahmte Frischmilch.
Angstvoll blickte man nun dem Ertrag der Ernte entgegen, die, wenn sie ähnlich schlecht ausfiel wie 1945, auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung auf Besserung verglühen lassen würde. "Die Ernährungslage ist auch weiterhin als sehr ernst zu bezeichnen", vermeldete der polizeiliche Lagebericht vom Juni 1946, um dann ein düsteres Zukunftsbild zu malen. "Durch den in den letzten Wochen anhaltenden Regen ist auch die erhoffte Ernte in Gemüse und Obst nicht ausgefallen, wie es erforderlich wäre. Ebenfalls ist die Heuernte durch die dauernden Regenfälle sehr in Mitleidenschaft gezogen, so dass sich auch dieses im kommenden Winter ungünstig auswirken wird."
Ebenso schlecht wie bei Heu, Gemüse und Obst sah es im Frühherbst des Jahres 1946 allenthalben bei den Kartoffeln aus. Hinzu kam der längste und kälteste Winter seit Menschengedenken, dessen Folgen die Zuteilungsmenge an Lebensmitteln bis Mitte April 1947 auf den bis dato tiefsten Stand absinken ließ. Zur gleichen Zeit gab Ministerpräsident Stock auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die hessischen Lebensmittelvorräte nur noch für 14 Tage reichen würden.
Auf den schneereichen und überaus frostigen Winter folgte ein außergewöhnlich langer, trockener Sommer mit entsprechend niedrigen Ernteerträgen - zusammengenommen Folgen, die einer Naturkatastrophe gleichkamen. "Das Jahr 1947", schreibt ein Chronist, "brachte im Sommer und Herbst eine seit fast 40 Jahren nicht da gewesene Dürre mit sich. In der Zeit von Anfang Juli bis Mitte Oktober sind keine nennenswerten Niederschläge gefallen. Die Weiden sind völlig ausgebrannt, und es macht sich eine unvorstellbare Futterknappheit bemerkbar. Ein erheblicher Teil des Milchviehs muss verkauft und notgeschlachtet werden.
Die Hackfrüchte, die sich sehr gut entwickelt hatten, brachten einen nur geringen Ertrag. Auf Anordnung des Landwirtschaftsamtes Hessen sollen für die Nichtselbstversorger nur 1 Ztr. Kartoffeln zur Einkellerung für den Winter freigegeben werden. Ein großer Teil der Bevölkerung sieht dem Winter 1947/1948 mit noch größerer Besorgnis als dem vorigen Winter entgegen."
Noch bis Mitte 1948 unterlagen fast alle Gebrauchsgüter der Zwangsbewirtschaftung und es fehlte, neben den Lebensmitteln, an Kleidungsstücken aller Art und zahllosen Gütern des täglichen Bedarfs, die, wenn überhaupt, nur mit Bezugsscheinen zu bekommen waren. Die Zuteilung mit Bezugsscheinen war jedoch völlig unzureichend und die Stimmungslage der auf engstem Raum zusammengedrängten Bevölkerung entsprechend.
Zunehmend wertloser wurde auch das Geld und jeder, der es irgendwie konnte, hortete entweder Sachwerte oder tauschte sie bei den unzähligen sogenannten "Hamsterfahrten" auf dem Land gegen Lebensmittel oder auf dem ausufernden Schwarzmarkt ein. Ein Stimmungsbild aus jenen Jahren gibt der damalige Großalmeröder Bürgermeister Carl Thiel.
"Jeder einzelne ist der Überzeugung", schrieb er Mitte 1947, "dass in absehbarer Zeit eine Neuregelung der Währung durchgeführt werden muss, da die gegenwärtigen Verhältnisse auf die Dauer nicht tragbar sind. Industriebetriebe, Kaufleute usw. versuchen vielfach sich dadurch gegen eine Minderung ihres Vermögens zu schützen, dass sie die von ihnen erzeugten Waren zurückhalten, um dadurch einer Abwertung zu entgehen. Man muss daher von einer ausgesprochenen Flucht in die Sachwerte sprechen. Die Folge dieses Verfahrens ist aber, dass trotz aller Ankurbelungsversuche der Produktion die produzierten Waren nicht auf dem Markt erscheinen."
Diese Zustände hatten die Menschen noch bis zum Sommer 1948 zu ertragen, ehe mit der Währungsreform der Grundstein für stabile wirtschaftliche Verhältnisse gelegt wurde. Und so war dann auch der 20. Juni 1948 - es war ein an Werra und Meißner trüber und verregneter Sonntag - ein ganz besonderer Tag. Überall stauten sich die Menschen in langen Schlangen, ein für die damalige Zeit nicht ungewöhnliches Bild. Nur ging es diesmal um kein Sonderangebot auf einen bestimmten Abschnitt der Lebensmittelkarte, sondern es gab das neue Geld, das "Deutsche Mark" hieß und von dem niemand wusste, was es wert sein würde. Jedem standen 60,- Mark zu, zunächst kamen aber nur 40,- Mark zur Auszahlung. Später konnten Reichsmark-Beträge, 1:10 abgewertet, in Deutsche Mark umgetauscht werden, waren aber in der neuen Währung zu versteuern.
Viele Millionen Reichsmark auf den Kundenkonten der Kreissparkassen in Eschwege und Witzenhausen lösten sich praktisch in Luft auf, der Wert der Reichsanleihen sank auf null. Allein die Städte im heutigen Kreisgebiet verloren viele Millionen Mark, waren fast ohne Mittel und mussten neben einer deutlichen Verringerung des Personals zur monatlichen Einziehung von Steuern und Gebühren übergehen. Besitzer von Sachwerten konnten sich glücklich schätzen und der viel beschworene "gleiche Start für alle" stand nur auf dem Papier.
Der Morgen des 21. Juni sah dann in den Innenstädten eine völlig veränderte Schaufensterlandschaft. Ob in Sontra oder Eschwege, Waldkappel oder Großalmerode, Hess. Lichtenau oder Witzenhausen, in den Schaufenstern häuften sich auf einmal die Waren, die man jahrelang vermisst hatte. Die Wirtschaft hatte in Erwartung der Währungsreform Waren gehortet, nun fehlte vielen Menschen das Geld, diese auch zu kaufen. Dennoch stabilisierte die Währungsreform nicht nur den Geldwert und trocknete den Schwarzmarkt binnen Kurzem aus, sondern gab auch den Startschuss für die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und ermöglichte das in den 50er Jahren so viel bestaunte "Wirtschaftswunder".
Auch sonst stellte der Neuanfang den Menschen eine schwierige Aufgabe. Sie mussten einen ebenso schnellen wie gründlichen Wechsel in Verwaltung und Politik verkraften und zugleich die Vergangenheit bewältigen. Das Verhältnis der Besatzungsmacht zur Bevölkerung war klar definiert und konnte als "geschäftsmäßig korrekt" bezeichnet werden. Zwischenmenschliche Kontakte untersagte das sogenannte "Fraternisierungsverbot", das nur auf dem "Schwarzen Markt" und in der Liebe durchbrochen wurde. Übergriffe waren selten, kamen aber vor.
Weitaus schwieriger gestaltete sich die sogenannte "Entnazifizierung", die auf der Grundlage des im März 1946 verabschiedeten "Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" mittels sogenannten "Spruchkammern" durchgeführt wurde. Demnach musste jeder Deutsche einen Meldebogen ausfüllen und dort Angaben zu seinem Lebensweg während des "Dritten Reiches" machen. Die Spruchkammer entschied dann über die Einstufung des einzelnen in eine der fünf Kategorien, die sich in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete aufteilten.
Grundsätzlich muss angemerkt werden, dass das schematische Verfahren viel zu viele betraf und den individuellen Lebenswegen nicht gerecht werden konnte. Die Kritik von deutscher Seite richtete sich vor allem gegen den Umfang.
So mussten für den Kreis Eschwege im Juni 1946 insgesamt 42.347 und für den Kreis Witzenhausen rund 39.000 Fragebögen bearbeitet werden, denn die NS-Führer und Aktivisten - die man eigentlich hatte erfassen und bestrafen wollen - gingen in der Masse unter.
Das Resultat dieser "Entnazifizierung" war ernüchternd. Als im April 1948 die Spruchkammer Witzenhausen ihrer Arbeit beendete, waren insgesamt 14.239 Personen vom Befreiungsgesetz betroffen gewesen. Davon wurden 11.088 Fälle aufgrund der Jugend- und Weihnachtsamnestie 1947 als erledigt zu den Akten gelegt und lediglich 1.441 Fälle noch verhandelt. Von diesen galten 22 als entlastet und 1.146 als Mitläufer, 251 waren Minderbelastete, 21 Belastete und lediglich ein einziger wurde als Hauptschuldiger verurteilt.
Beispielhaft für das gesamte Procedere mag das Verfahren gegen Dr. Gerber, den Landrat des Kreises Witzenhausen stehen, das die Hessischen Nachrichten am 27. Juni 1946 wie folgt kommentierten: "Es ist nun heute so, daß getreu den Vorbildern auf der Nürnberger Anklagebank keiner etwas getan haben will. Jeder ist unschuldig wie ein neugeborenes Lamm und wenn er wirklich, ja dann (...) hat er eben auf Befehl gehandelt, und wenn er diesen Befehl nicht befolgt hätte, wäre er ja selbst ins KZ gekommen. Man sollte es kaum glauben, daß das Hitlerregime so viel Gegner gehabt haben soll."
Betrachtet man in diesem Zusammenhang die politische Entwicklung der beiden Landkreise bis zur Bildung des Werra-Meißner-Kreises, so fällt als erstes die dominierende Rolle der SPD ins Auge, die sowohl in Eschwege als auch Witzenhausen zur maßgeblichen politischen Kraft wurde. Allerdings war diese Rolle im Altkreis Witzenhausen deutlich ausgeprägter - hier gelangen den Sozialdemokraten, mit Ausnahme der Kommunalwahl vom 25. April 1948, bei allen Kreistagswahlen bis 1972 Ergebnisse weit jenseits der 50 %-Marke und mit Wilhelm Brübach stellten sie vom 1. Juli 1946 bis zum 31. Dezember 1973 auch den Landrat.
Etwas differenzierter stellte sich die politische Situation im Landkreis Eschwege dar. Zwar war die SPD auch hier ab 1956 die stärkste Partei mit Ergebnissen von 50 % + x und stellte mit Eitel O. Höhne seit dem März 1961 auch den Landrat, aber bis zur Kommunalwahl des Jahres 1956 war das politische Terrain doch deutlich vielschichtiger als bei den Witzenhäuser Nachbarn.
Bei den Kommunalwahlen 1948 wurden die Sozialdemokraten mit 37,7 % hinter der LDP nur zweitstärkste politische Kraft und auch das Ergebnis der Kreistagswahlen des Jahres 1952 sah die SPD nur bei etwas mehr als 40 %. Die Wahlen 1960 und 1964 fanden ohne politische Beteiligung der CDU statt und das daraus entstandene politische Vakuum wurde durch eine starke "Überparteiliche Wählergemeinschaft" (ÜWG) und die FDP ausgefüllt.
Diese doch etwas andere politische Gemengelage macht es auch erklärlich, dass in den fünfzehn Jahren bis zum Amtsantritt Eitel Höhnes fünf Landräte im Eschweger Schloss residierten: Neben Wolfgang Hartdegen und Dr. Friedrich Alfred Busse, die als Männer der ersten Stunde ohne Mandat der Wähler bis zum Februar 1946 amtierten, noch der Sozialdemokrat Johannes Braunholz (1.7.1946-30.6.1948), Gerhard Pforr von der LDP (1.7.1948-30.6.1954) und schließlich Hansjochen Kubitz (BHE), dessen Amtszeit vom 5. Juli 1954 bis 15. Dezember 1960 dauerte.
Alle diese Männer und die sie tragenden Parteien gingen nach der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949, der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag am 14. August 1949 gemeinsam den langen Weg der Westintegration, die den jungen deutschen Staat schließlich wieder zu einem gleichberechtigten Mitglied der internationalen Völkergemeinschaft machte.
Die Deutsche Teilung bringt die Region in eine Randlage
Ein bitterer Wermutstropfen blieb allerdings erhalten und erinnerte sichtbar an das Unrecht, das in deutschem Namen von deutschem Boden ausgegangen war: Die "Deutsche Teilung" und der immer undurchdringlicher werdende "Eiserne Vorhang". Insbesondere die Menschen in den sogenannten "Zonenrandgebieten", zu denen auch die Kreise Eschwege und Witzenhausen gehörten, wurden tagtäglich damit konfrontiert.
Ihren Ursprung hatte diese Grenze in den sogenannten "Zonengrenzen", welche die vier Besatzungszonen der unmittelbaren Nachkriegszeit voneinander trennten. Dabei lief die Grenzziehung nicht immer reibungslos und - wie auch in unserer Region geschehen - musste mitunter nachgebessert werden.
Das ehemalige Kurhessen bzw. die Provinz Hessen-Nassau gehörten zur amerikanischen Zone und mit ihnen auch die Kreise Eschwege und Witzenhausen. Allerdings lief die für die Amerikaner wichtige Nord-Süd-Eisenbahnverbindung von Bremen über Hannover, Göttingen und Eichenberg bis Bebra nicht nur durch britisches Besatzungsgebiet, sondern im Raum Neuseesen/Werleshausen auf einer Länge von drei Kilometern auch durch die sowjetische Zone.
Diese Bahnlinie - vom Volksmund in Anspielung auf die Trinkgewohnheiten der beiden Besatzungsmächte "Whisky-Wodka-Linie" genannt - war ein dauernder Konfliktherd, der erst durch das sogenannte "Wanfrieder Abkommen" vom 17. September 1945 beseitigt werden konnte.
Die Verhandlungen zwischen den beiden Delegationen fanden u. a. im Keudelschen Schloss und im schwer bewachten damaligen Hotel Rexrodt (Ecke Martinsgasse/Kirchstraße) statt. Man einigte sich schließlich auf einen Gebietstausch, der die ehemaligen hessischen Dörfer Asbach, Sickenberg, Vatterode und Weidenbach/Hennigerode mit 429 Einwohnern und einer Fläche von 761 ha der sowjetischen und die ehemals thüringischen Orte Neuseesen und Werleshausen mit 560 Einwohnern und 845 ha Fläche der amerikanischen Zone zuordnete: Die Bahnlinie verlief nun vollständig durch amerikanisches Gebiet.
Die Grenze hatte nun ihren endgültigen Verlauf erhalten, war aber in den ersten Jahren nach dem Krieg noch unbefestigt und wurde landläufig auch als "Grüne Grenze" bezeichnet. Bewacht wurde sie zunächst von Angehörigen der Roten Armee, später übernahm diese Aufgabe dann die sogenannte "Kasernierte Volkspolizei", im westdeutschen Sprachgebrauch kurz "Vopo" genannt.
Wenn auch die Demarkationslinie entlang dem späteren Werra-Meißner-Kreis zwischen Eichenberg im Norden und Herleshausen im Süden noch überwindbar war, kannten weder Russen noch Vopos Pardon, wenn sie Grenzgänger erwischten. Mitunter wurde auch scharf geschossen und selbst Todesfälle sind aus jener Zeit dokumentiert.
Zeitzeugen aus Neuseesen erinnern sich, dass das Klima zwischen Ost und West in den frühen 50er Jahren aber noch ziemlich moderat war und es immer wieder auch einen "kleinen Grenzverkehr" gab: Vopos besuchten in den Grenzorten die kleinen Läden, um Zigaretten und Bier zu kaufen und feierten mancherorts sogar die Kirmes mit.
Das änderte sich schlagartig mit dem 13. August 1961, denn nach dem Bau der Berliner Mauer wurde auch die innerdeutsche Grenze befestigt, vermint und immer mehr zu einer undurchdringlichen Todeslinie perfektioniert. Zwischenfälle mit sogenannten "Republikflüchtlingen" gab es nun häufiger: Mal wurden Flüchtlinge beschossen, als sie versuchten die Werra zu durchschwimmen, mal wurden sie von Bodenminen verletzt oder sogar getötet.
Für die Sicherheit auf bundesdeutscher Seite waren in der Region der Bundesgrenzschutz in Eschwege und der Zollgrenzdienst zuständig. Dabei war der Zoll durch seine Kommissariate in Netra, Wanfried und Witzenhausen näher dran und vermittelte der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit. Viele der eigens für die Zollbediensteten gebauten Wohnblocks - so in Witzenhausen in der Straße Auf den Hecken - stehen in den früheren Grenzorten heute noch.
Besonders menschenverachtend am Sperrsystem der DDR waren die Splitterminen (SM 70), die beim Berühren der Kontaktdrähte detonierten und ihre Opfer schwer verletzten. Unvermittelt wurde diese Technik dann ab Herbst 1983 abgebaut, mutmaßlich als Folge eines Milliardenkredites, den Franz-Josef Strauss, der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, der DDR vermittelt hatte.
Zwischen Hessen und Thüringen starben an der Innerdeutschen Grenze sechsundzwanzig Menschen bei Fluchtversuchen, mutmaßlich letztes Grenzopfer dürfte am 30. März 1982 Heinz-Josef Große (35) aus Thalwenden gewesen sein. Ihn trennten nur noch wenige Meter von westdeutschem Boden, als er bei Sickenberg von Kugeln der DDR-Grenzposten niedergestreckt wurde.
Abgesehen von diesen unmenschlichen Begleitumständen und dem mit dem oft zitierten "gesunden Menschenverstand" nur sehr schwer zu begreifendem Umstand, dass eine Urlaubsreise ins sonnige Italien leichter zu unternehmen war, als der Besuch eines Allendörfers bei den Bekannten im drei Kilometer entfernten Wahlhausen oder eines Altenburschlaers im nur den berühmten "Katzensprung" entfernten Großburschla, bedeutete die "innerdeutsche Grenze" für unsere Region einen jahrzehntelangen wirtschaftlichen Hemmschuh und die ebenso lange Abhängigkeit von staatlichen Fördertöpfen.
Um die tatsächliche Dimension dieser Problematik deutlich zu machen, genügt ein kurzer Blick auf die geographische Lage beider Kreise: Von den insgesamt 195 km der Eschweger Kreisgrenze waren fast die Hälfte (95 km) gleichzeitig schwer bewachte Zonengrenze, der Kreis Witzenhausen teilte dieses Los auf insgesamt 24,5 km.
Neben der menschlichen Tragik dieses nach dem 13. August schier undurchdringlich gewordenen "Eisernen Vorhangs" besaß die widernatürliche Grenzziehung durch die ehemalige Mitte Deutschlands noch eine erhebliche wirtschaftliche Problematik, die die Entwicklung beider Kreise - wenn auch in unterschiedlicher Schwere - nachhaltig beeinträchtigte.
Zum einen wurde der historisch gewachsene hessisch-thüringische Wirtschaftsraum auseinander gerissen - nicht umsonst waren die Kreise Mühlhausen, Heiligenstadt, Worbis und Schmalkalden als Teil der gemeinsamen Industrie- und Handelskammer Kassel/Mühlhausen integraler Bestandteil unserer Wirtschaftsregion - zum anderen hatte die plötzliche Randlage zum westlichen Wirtschaftsraum schwerwiegende Strukturnachteile zur Folge. Durch die Grenzziehung waren sowohl die frühere geographische Mittelpunktfunktion innerhalb Deutschlands als auch wichtige Beziehungen in den ostdeutschen Raum sowie nach Mittel- und Osteuropa zerschnitten worden.
Zusätzlich zu diesen eher übergeordneten ökonomische Faktoren hatten viele kleine und mittlere heimische Unternehmen wichtige Absatzgebiete verloren. Dies galt im Bereich des Kreises Witzenhausen insbesondere für den nördlichen Teil mit den Städten Witzenhausen und Bad Sooden-Allendorf, denen mit dem benachbarten Eichsfeld nun ein wichtiger Teil ihrer traditionellen Absatzmärkte weggebrochen war.
Ähnlich, nur ungleich gravierender, gestaltete sich die Situation im Kreis Eschwege. Hier waren die ökonomischen Verflechtungen nach Thüringen traditionell noch stärker als im Kreis Witzenhausen, der in seinem südlichen, vornehmlich industriell geprägten Teil stark in den Kasseler Raum orientiert war.
Die Folge war eine außergewöhnlich hohe Zahl an Arbeitslosen, wie die "Hessischen Nachrichten" am 6. Februar 1950 melden mussten: "Die Zahl der Arbeitslosen für den Bezirk Witzenhausen wird für Januar mit 2.809 gegenüber 2.172 im Dezember angegeben, wobei für den Bereich Witzenhausen 17,5 % Arbeitslose gemeldet sind. Den Höchstdurchschnitt an Arbeitslosen meldet Eschwege mit 30,5 %."
Zonenrandförderung und "Großer Hessenplan" sollen Lebensverhältnisse verbessern
Bereits seit Mitte der 50er Jahre wurden deshalb verstärkt staatliche Fördermittel für Investitionen in der Region bereitgestellt, so dass sich die Zahl der Beschäftigten im Landkreis Eschwege von 16.000 im Jahr 1951 auf 22.520 im Jahr 1966 erhöhte - und das trotz der Stilllegung des Kupferschieferbergbaus in Sontra. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Firma Massey-Ferguson genannt werden, die ab 1952 auf dem sogenannten "Eschweger Flugplatz" angesiedelt wurde und in Spitzenzeiten bis zu 2.500 Mitarbeiter beschäftigte.
Die andere Kreisstadt Witzenhausen, der seit 1965 im "Großen Hessenplan" die Funktion eines "gewerblichen Schwerpunktortes sowie einer Wohn- u. Fremdenverkehrsgemeinde" zugedacht worden war, erhielt zudem als Bundesausbau und Sonderförderungsort seit Ende der 60er Jahre erhebliche Mittel zur Strukturverbesserung und Schaffung von Arbeitsplätzen. "Einen breiten Raum", lautete bereits die zentrale Aussage des Verwaltungsberichtes der Stadt für die Jahre 1964-1968, "haben alle Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung eingenommen. Hier stand an erster Stelle die Stützung der heimischen Wirtschaft."
Dies galt natürlich nicht nur für die beiden Kreisstädte, sondern auch für die gesamte Region, die als Kompensation für die aus der Randlage resultierenden strukturellen Nachteile seit 1971 von der Bundesregierung die sogenannte "Zonenrandförderung" erhielt. Mit Subventionen und günstigen Abschreibungsbedingungen in Verbindung mit einem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau sollten die Standortattraktivität verbessert und Investitionsanreize geschaffen werden.
So ließ sich seit Mitte der 60er auch im strukturschwachen Zonenrandgebiet endlich von Vollbeschäftigung sprechen und bald musste im Land an Werra und Meißner, um den Produktionsprozess aufrecht zu erhalten, verstärkt auf sogenannte "Gastarbeiter" aus Südeuropa zurückgegriffen werden. Insbesondere wurden diese Arbeitnehmer in der Zigarrenindustrie benötigt, die, neben Möbel, Textil und Papierherstellung, den industriellen Kern im Raum Witzenhausen bildete.
Zusammen mit der Ton-, Schamotte- und Schmelztiegelherstellung im Raum Großalmerode, dem Braukohlebergbau am Hirschberg und auf dem Meißner, der Textil- und Möbelherstellung in Hess. Lichtenau und den vielfältigen kleineren Handwerks- und Gewerbetrieben waren Ende der 60er etwa 20.000 Menschen - mehr als ein Drittel der Einwohner des Kreises - in Industrie und Gewerbe beschäftigt.
Deutlich weniger industrialisiert war der Kreis Eschwege, dessen gewerblicher Schwerpunkt im Bereich der Metallindustrie lag. Hinzu kamen Textilbetriebe, pharmazeutische Industrie, Steine und Erden, Bauindustrie, Schmelztiegel sowie Betriebe im Bereich Nahrungs- und Genussmittel. Insgesamt waren damals rund 12.000 Arbeiternehmer in der Industrie und noch einmal ca. 5.000 in rund 1.000 Handwerksbetrieben beschäftigt.
Einen wesentlich höheren Stellenwert als heute besaß damals die Landwirtschaft, die, zumindest im Landkreis Eschwege, einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellte. Laut einer Statistik aus dem Jahr 1966 umfasste der Kreis Eschwege insgesamt eine Fläche von 50.000 ha, von denen 24.000 ha landwirtschaftlich und 18.000 ha forstwirtschaftlich genutzt wurden. Die Struktur war kleinteilig und von den rund 3.900 Betrieben bewirtschafteten etwas mehr als 2.700 eine Betriebsfläche von maximal fünf Hektar. Nur rund 1.000 Betriebe hatten bis zu zwanzig Hektar und lediglich 20-50 ha unterm Pflug. Ganze 33 Landwirte nannten im Kreis Eschwege fünfzig Hektar und mehr ihr eigen - die von ihnen genutzten rund 4.100 ha waren allerdings fast ebenso groß wie die Fläche der 2.700 Kleinbauern und Nebenerwerbslandwirte.
Ähnlich strukturiert war die Landwirtschaft im Kreis Witzenhausen, wo fünfzehn landwirtschaftliche Großbetriebe über 54 % der Anbaufläche verfügten. Die anderen 46 % der Fläche wurden von 90 % der Betriebe bewirtschaftet, und dies in der Regel im Nebenerwerb. Größere Bedeutung besaß im Kreis Witzenhausen noch der Obstbau - insbesondere der Kirschenanbau wurde in den 60er und 70er Jahren im Werratal deutlich intensiviert.
Zukunftsträchtig erschien in beiden Landkreisen der Ausbau des Fremdenverkehrs, der sowohl über die Schiene örtlicher Heimat- und Verkehrsvereine als auch durch kreisweite Zusammenschlüsse wie dem 1961 gegründeten Fremdenverkehrsverein "Werra-Meißner-Kaufunger-Wald e. V." vorangetrieben wurde.
Besonders erfolgreich zeigten sich - neben der Kurstadt Bad Sooden-Allendorf als unbestrittenem Zentrum des heimischen Fremdenverkehrs - die Städte Witzenhausen und Großalmerode sowie die Gemeinde Ziegenhagen, die schon seit 1957 staatlich anerkannter "Luftkurort" war und 1969 noch zusätzlich das Prädikat "Kneipp-Kurort" erhielt.
Eine ähnliche Entwicklung war im Landkreis Eschwege zu beobachten. Hier lag der Schwerpunkt der Aktivitäten hauptsächlich bei den insgesamt elf Heimat- und Verkehrsvereinen, die, angefangen beim "Verkehrs- und Verschönerungsverein Eschwege", über den Meißner, die "Hessische Schweiz", den Ringgau bis hin nach Herleshausen, das gesamte Kreisgebiet touristisch betreuten. Dass diese in der Regel ehrenamtlichen Aktivitäten durchaus erfolgreich waren, zeigt die Verdreifachung der Übernachtungszahlen von 52.000 im Jahr 1957 auf 154.000 Ende 1965.
Eine ganz wichtige Einzelmaßnahme war in diesem Zusammenhang am 16. Februar 1962 die Schaffung des Naturparks "Meißner-Kaufunger-Wald" durch die Landkreise Eschwege, Kassel und Witzenhausen.
Im großräumigen Gebiet von Meißner und Kaufunger Wald wollte man mit dem Ausbau des Parks mehrere "Fliegen mit einer Klappe" schlagen. Einerseits sollten Naturlandschaft, Tier- und Pflanzenwelt geschützt und der heimischen Bevölkerung gleichzeitig lärmfreie Erholungsgebiete erschlossen werden. Andererseits war dem Naturpark langfristig eine wichtige Rolle in der touristischen Vermarktung der Region zugedacht. Und so begann man mit einem dichten Netz an Wanderwegen, Parkplätzen und Ruhemöglichkeiten die notwendige Infrastruktur zu schaffen.
Die Schaffung moderner Infrastruktur war ganz allgemein ein zentrales Anliegen jener Jahre. Immer problematischer gestalteten sich Ausbau und Zustand des heimischen Straßennetzes, das, teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert stammend, für den modernen und zudem rapide wachsenden Kraftfahrzeugverkehr nicht ausgelegt war. Dies betraf die Bundes- und Kreisstraßen ebenso wie die teilweise gefährlich engen und verwinkelten Ortsdurchfahrten.
Eine große Bedeutung für die Mobilität besaß damals noch der Schienennahverkehr, und beide Landkreise wiesen ein engmaschiges Schienennetz auf. Den Kreis Witzenhausen durchzogen die Bahnlinien Göttingen - Kassel bzw. Göttingen - Bebra mit dem Bahnhof Eichenberg als Drehkreuz. Von dort zweigte auch die sogenannte "Gelstertalbahn" ab, die über Großalmerode, Walburg und Hess. Lichtenau nach Kassel führte.
Die Fernverbindung Göttingen - Bebra verband auch den Kreis Eschwege mit dem Fernverkehr. Darüber hinaus gab es von Eschwege noch Bahnlinien nach Wanfried, über Waldkappel und Hess. Lichtenau nach Kassel sowie über Waldkappel und Spangenberg nach Treysa. Moderne Infrastruktur bedeutete vor allem auch die Anpassung der allgemeinen Lebensbedingungen an die Standards des 20. Jahrhunderts. So nutzte Witzenhausen z. B. bis 1962 noch das alte Abwassersystem aus dem Jahr 1902 und musste von 1962-1968 mit Millionenaufwand - die Stadt sprach damals von einem "Jahrhundertprojekt" - das gesamte Kanalnetz erneuern. Eschwege war da schon weiter, aber auch dort standen in den 60er Jahren aufwändige und kostspielige Erweiterungen und Modernisierungen der Kanalisation auf der Tagesordnung. Kanal, Strom, Wasser - all diese unverzichtbaren Bestandteile des täglichen Lebens mussten entweder modernisiert oder gänzlich neu eingerichtet werden.
Einen ganz wichtigen Bestandteil bürgernaher Grundversorgung bildete auch damals schon das Gesundheitswesen. Beide Kreise gewährleisteten die medizinische Grundversorgung ihrer Bürger durch eigene Krankenhäuser: Der Kreis Eschwege als alleiniger Träger, der Kreis Witzenhausen seit 1950 gemeinsam mit der Stadt Witzenhausen im "Zweckverband Kreis- und Stadtkrankenhaus Witzenhausen". Immer wieder baulich modernisiert - in Witzenhausen 1952, in Eschwege 1968 - und medizinisch auf den neuesten Stand gebracht, konnten beide Krankenhäuser eine hohen medizinische Qualität aufweisen und waren damals schon als Standortfaktoren unverzichtbar.
Erklärtes politisches Ziel der damaligen hessischen Landesregierung war der Versuch, größtmögliche Chancengleichheit im Bildungsbereich zu erreichen. Dies konnte natürlich nicht mit den traditionellen Dorfschulen geschehen, deren teilweise noch eingleisiges System - alle Jahrgangsstufen wurden in einem Raum unterrichtet - den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft nicht gerecht wurde.
Dies zu ändern war vordringliches Ziel auch der politisch Verantwortlichen in unserer Region, und so entstand mit der Ernst-Reuter-Schule auf der grünen Wiese zwischen Eichenberg-Berge und Hebenshausen Ende der 50er Jahre eine der ersten sogenannten "Mittelpunktschulen" Deutschlands. Damit wurde ein deutliches bildungspolitisches Signal gesetzt und in den frühen sechziger Jahren konnte der Bau von Mittelpunktschulen u. a. in Grebendorf, Herleshausen, Hundelshausen, Nesselröden, Rommerode, Waldkappel, Wanfried und Walburg vehement vorangetrieben werden.
Realschulen bzw. Realschulzweige fanden sich in beiden Landkreisen nahezu flächendeckend, Höhere Schulen gab es in Bad Sooden-Allendorf, Eschwege und Hess. Lichtenau, eine der ersten "Gesamtschulen" seit 1968 in Witzenhausen.
In Witzenhausen als traditionellem Standort landwirtschaftlicher Ausbildung, entstand 1963 mit der "Deutschen Landmaschinenschule", kurz DEULA, eine moderne landwirtschaftliche Bildungseinrichtung von überregionaler Ausstrahlung. Hinzu kam mit dem "Seminar für ländliche Entwicklungshilfe" ein völlig neues Bildungsangebot, das die Kreisstadt zu einem landwirtschaftlichen Ausbildungszentrum von Rang werden ließ.
Den zwischenzeitlichen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Einbindung der Witzenhäuser Ingenieurschulen als Fachbereiche in die neue Gesamthochschule Kassel: Mit dem Beginn des Wintersemesters 1971/1972 nahm die GHK mit 300 Studenten auch in Witzenhausen ihren Lehrbetrieb auf - die Kirschenstadt hatte Eingang gefunden in den elitären Kreis der deutschen Universitätsstädte.
"Gebt mir zwölf Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wieder erkennen", hatte Adolf Hitler in einer seiner Sportpalastreden Anfang 1933 verkündet. Und in der Tat, nach dem 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, war das Land nicht mehr wiederzuerkennen. Gemäß den Vereinbarungen, die die Anti-Hitler-Koalition am 11. Februar 1945 auf der Halbinsel Krim getroffen hatte, wurde das Deutsche Reich in vier Besatzungszonen aufgeteilt und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie unter russische und polnische Verwaltung gestellt.
Nach den Ereignissen des letzten Kriegswochen gehörte das heutige Kreisgebiet zur amerikanischen Zone und das erste Plakat, das in den Rathäusern und Häuserwänden zwischen Herleshausen und Ziegenhagen erschien, war die berühmte "Proklamation Nr.1" Dwight D. Eisenhowers, deren entscheidende Passage die Zukunft der bisherigen Machthaber betraf: "Wir kommen als ein siegreiches Heer, jedoch nicht als Unterdrücker. In dem deutschen Gebiet, das von den Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben."
Weiterhin wurde der Bevölkerung mitgeteilt, dass die Ausgangsbeschränkung von 19 bis 6 Uhr festgesetzt sei. In dieser Zeit durften Zivilisten, ausgenommen Ärzte und Angehörige ähnlicher Berufe, ihre Häuser nicht verlassen. Darüber hinaus durfte sich niemand aus dem jeweiligen Gemeindegebiet weiter als sechs Kilometer entfernen, es sei denn, er besaß einen Passierschein. Eisenbahnen - so sie denn überhaupt fuhren - und Privatfahrzeuge durften ohne besondere Erlaubnis nicht benutzt werden, Ansammlungen von mehr als fünf Personen waren verboten.
Am 21. Mai 1945 wurden Wolfgang Hartdegen und Fritz v. Coelln, letzterer seit Mitte April Bürgermeister der Kreisstadt Witzenhausen, von der alliierten Militärregierung zu den ersten Nachkriegslandräten der damaligen Kreise Eschwege und Witzenhausen berufen - das "normale" Leben lief wieder an, die Konturen des Kommenden begannen sich abzuzeichnen.
Gemeinsam mit vielen anderen überall im Land, die, wenn sie auch nicht ausgewiesene Gegner der Nationalsozialisten gewesen waren, doch zumindest den Verlockungen der NS-Partei widerstanden hatten, gingen diese Männer und Frauen der ersten Stunde an die Errichtung eines demokratischen Staatswesens und den Wiederaufbau.
Es war ein Wiederaufbau mit vielen Fragezeichen, der zudem von den Siegermächten - auch den Westalliierten - anfangs mit erheblichem Argwohn beobachtet und keineswegs immer nur unterstützt wurde. Und es war ein Wiederaufbau, der alle noch vorhandenen Kräfte der Besiegten bis zum Äußersten beanspruchte und die, die sich engagierten, vor fast unlösbare Probleme stellte.
Deutschland, aufgeteilt in vier voneinander streng getrennte Zonen, in die hinein und aus denen heraus niemand ohne Passierschein kam; Deutschland, ohne einheitliche staatliche Verwaltung und Regierung, ohne Güter- und Personenverkehr, mit tausenden zerstörter Brücken, Bahnhöfen und 2,25 Mio. zerstörter Wohnungen, ohne Industrie, Rohstoffe, Nahrung, der größte Teil seiner Männer hinterm Stacheldraht der Gefangenenlager - soweit sie nicht verwundet, gefallen oder verschollen waren - ein Land mit Nahrungsmittelrationen von 1150 Kalorien täglich, in das nun auch noch Millionen von Flüchtlingen einströmten - dieses Deutschland also ging an seinen Wiederaufbau.
Wiedergeburt der Demokratie und Integration der Flüchtlinge
Mühsam wieder bzw. gänzlich neu aufgebaut werden mussten auch die durch zwölf Jahre NS-Diktatur fast völlig verschütteten demokratischen Institutionen. Zu den ersten demokratischen Wahlen nach dreizehn Jahren wurden die Menschen am 27. Januar 1946 an die Urnen gerufen: Überall in Großhessen entschied die Bevölkerung über die Zusammensetzung der Gemeindeparlamente.
Schon unmittelbar nach Kriegsende hatten sich aus Widerstandsgruppen und Verfolgten des NS-Regimes sogenannte "Antifaschistische Ausschüsse" gebildet, die sich mit dem vorsichtigen Aufbau einer demokratischen Parteienlandschaft im Sommer 1945 wieder auflösten. Diese Parteienlandschaft wurde von den Traditionsparteien SPD und KPD und der sich neu bildenden Christlich-Demokratischen Union (CDU) - hervorgegangen aus dem katholischen Zentrum und dem protestantisch geprägten Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) - geprägt. Hinzu kam die "Liberal-Demokratische Partei (LDP)", aus der dann die am 11. Dezember 1948 im Heppenheim gegründete "Freie Demokratische Partei" (F.D.P.) hervorging.
Diese vier, zwischen dem 13. Dezember 1945 und dem 11. Januar 1946 zugelassenen Parteien, stellten sich Ende Januar 1946 der Gemeindewahl, Ende April 1946 der Kreistagswahl, Ende Juni 1946 der Wahl zur verfassungsberatenden Landesversammlung und am 1. Dezember 1946 der Wahl zum ersten hessischen Landtag.
In den Altkreisen Eschwege und Witzenhausen wurden die Sozialdemokraten - bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 87 % - bei den Gemeinde- und Kreistagswahlen mit 54,7 % bzw. 57 % der abgegeben Stimmen die bei weitem stärkste politische Kraft und knüpften damit nach den schrecklichen Jahren von Diktatur, Demütigung und Verfolgung wieder an ihre politische Stellung an, die sie auf Landkreisebene in der Region bis zum Ende der zwanziger Jahre inne gehabt hatten.
Auch die Presselandschaft sortierte sich neu und als erste überörtliche Tageszeitung erschienen die in Kassel herausgegebenen "Hessischen Nachrichten", die ab dem 23. Januar 1946 mit dem sogenannten "Werraboten" eine besondere Beilage mit Nachrichten für die "Bevölkerung der Kreise Eschwege und Witzenhausen" präsentierte.
Ein Blick sowohl in die Presse als auch die amtlichen Dokumente jener Tage zeigt, welche Probleme damals vordringlich zu lösen waren. "Die Wohnungskommission muss", hieß es da in den Protokollen der Witzenhäuser Stadtverordnetenversammlung, "mit allen Mitteln die Sicherstellung der Wohnungen für Ostflüchtlinge durchführen" und die "Hessischen Nachrichten" erschienen am 23. März 1946 mit der Schlagzeile "Europa hungert" - um dann nur wenige Tage später ihren Lesern mitzuteilen, dass ab dem 1. April die Lebensmittelrationen von 1.550 auf 1.275 Kalorien pro Tag herabgesetzt würden.
Damit waren auch schon die Dinge benannt, mit denen die Menschen am meisten zu kämpfen hatten: Wohnungsmangel und unzulängliche Versorgungslage.
Im April 1946 trafen die ersten Heimatvertriebenen ein, wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die einzelnen Städte und Gemeinden verteilt und verschärften durch ihre bloße Anwesenheit überall die ohnehin angespannte Wohnraumsituation auf dramatische Weise.
Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zählte der Kreis Eschwege 51.191 und der Kreis Witzenhausen 37.860 Einwohner. Diese Zahlen erhöhten sich bis 1950 um ca. 22.000 im Altkreis Eschwege und 18.000 im Altkreis Witzenhausen, um sich dann Mitte der 60er Jahre durch Abwanderung in die Ballungsgebiete im Altkreis Eschwege bei 65.520 (plus 28 %) und im Altkreis Witzenhausen bei 52.835 (plus 39 %) Einwohnern einzupendeln.
Im Mai 1946 erreichten die Transporte ihren Höhepunkt und Hans v. Coelln, der kommissarische Landrat des Kreises Witzenhausen, informierte am 14. Mai die Bürgermeister seiner Gemeinden über weitere zu erwartende Transporte und die damit einhergehenden Schwierigkeiten:
"Ich möchte darauf hinweisen, dass grundsätzlich sich jeder Ortsansässige gefallen lassen muß, dass er bei der Einweisung von Flüchtlingen in seinem Wohnraum beschränkt wird. Der Ortsansässige wird dabei in der Regel immer noch geräumiger und besser wohnen als der Flüchtling. Über der Gewährung der Unterkunft hinaus muss den Flüchtlingen auch der notwendigste Hausrat zur Verfügung gestellt werden, ebenso Schränke oder Schrankteile, damit der Flüchtling imstande ist, seine geringe mitgebrachte Habe einigermaßen ordnungsmäßig unterzubringen. Da die Haushaltungen der ortsansässigen Bevölkerung im Gegensatz zu den Verhältnissen in anderen Kreisen von Fliegerschäden nicht betroffen wurden, dürfte in jedem Haushalt noch so viel Geschirr vorhanden sein, dass auch die Flüchtlinge noch mit versorgt werden können. Ich werde künftig bei berechtigter Klage, falls es dem Quartiergeber an dem notwendigen sozialen Verständnis fehlt, mit aller Entschiedenheit gegen die Betreffenden vorgehen."
Die Integration der neuen Mitbürger war sicher nicht einfach, aber sie gelang Schritt für Schritt. Am leichtesten konnten sich naturgemäß die Kinder mit der neuen Situation abfinden und schon im Herbst 1946 hatten sich "... die eingewiesenen Flüchtlingskinder schnell mit den hier beheimateten Kindern angefreundet. Spannungen oder gar Zänkereien sind nicht zu beobachten, was umso erfreulicher ist, da es sich um verschiedene Konfessionen handelt. Die zugewanderten Familien sind alle katholisch und die Zahl der katholischen Schulkinder stieg dadurch beträchtlich."
Eine von der Kreisverwaltung Witzenhausen Mitte der 50er Jahre in Auftrag gegebene "Kreisbeschreibung" kommt bezüglich des Zusammenlebens von "Alteingesessenen" und Heimatvertriebenen zu einem Ergebnis, das durchaus als repräsentativ auch für den damaligen Kreis Eschwege gelten kann:
"Im Laufe von sieben Jahren (1946-1953) des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens der verschiedenen Bevölkerungsteile", so die Einschätzung, "hat ein gewisses Abschleifen der anfänglich auftretenden Gegensätze mit sich gebracht. Wo diese noch heute auftreten, gehen sie meist auf Wohnungsschwierigkeiten zurück. Besonders unter den Jugendlichen bestehen kaum noch Gegensätze irgendwelcher Art. Durch Heirat sind schon manche Familienbande zwischen Alteingesessenen und Neubürgern geknüpft worden. Wenn die Heimatvertriebenen also in ihrem neuen Heimatgebiet schon in weitem Umfang Wurzeln geschlagen haben, bleibt es nun Aufgabe der Planung und Verwaltung dafür zu sorgen, dass diese wertvollen Kräfte weiterhin beim Wiederaufbau der Wirtschaft und im kulturellen Leben mithelfen."
Viel dazu beigetragen hat auch der erstmals vom damaligen Ministerpräsidenten Zinn am 10. Januar 1951 verkündete "Hessenplan", - der dann im April 1965 als "Großer Hessenplan" bis in die 70er Jahre fortgeschrieben wurde - der nicht nur im Allgemeinen die Situation in dem neu gebildeten Bundesland verbessern sollte, sondern sich auch speziell der Situation der Vertriebenen annahm und diese deutlich zum Positiven wendete.
Sorgenkinder
Wirtschaftslage, Versorgung und Wohnungsnot
Nicht minder katastrophal als die Wohnungssituation stellte sich in den ersten Nachkriegsjahren die allgemeine Versorgungslage dar, die, sowieso bereits problematisch, durch die schiere Zahl vieler tausend Neubürger zu kollabieren drohte. Im Vergleich zu den letzten Kriegsjahren hatte sich der Rückgang der Nahrungsmittelproduktion noch verstärkt, denn mit den deutschen Ostgebieten standen die traditionellen Kornkammern des untergegangenen Reiches entweder unter polnischer Verwaltung oder lagen in der sowjetischen Zone. Im Westen fehlte es sowohl an Düngemitteln als auch an Saatgut, so dass die vorhandenen Anbauflächen noch nicht einmal den notwendigsten Bedarf decken konnten.
Ähnlich war die Lage auf dem Energiesektor: Kohlen standen nur den wichtigen Industrieunternehmen zur Verfügung und wenn es sie für die Allgemeinheit gab, machte es die zerstörte Verkehrsinfrastruktur nahezu unmöglich, sie zu den Verbrauchern zu transportieren. Brennholz war rationiert, und die Versorgung mit elektrischem Strom, auch damals schon für die Gesellschaft fast überlebensnotwendig, konnte nur stundenweise erfolgen.
Wer gehofft hatte, die allmähliche Normalisierung des Lebens würde auch die Energieversorgung mit einbeziehen, sah sich bitter getäuscht. Im Gegenteil: Ende Februar 1947 erreichte die Versorgung mit elektrischer Energie in der Region einen neuen Tiefpunkt. "Wegen der immer schlechter werdenden Stromversorgungslage", so der Leitartikel in den "Hessischen Nachrichten", "die aus einem akuten Kohlenmangel und durch Abfuhr von enormen Mengen Strom an ehemalige Feindstaaten entstanden ist, und um einer Katastrophe auf diesem Gebiet vorzubeugen, macht man sich Gedanken darüber, ob man ein Windkraftwerk errichten sollte."
Dieser höchst modern anmutende Vorschlag kam nicht zur Ausführung - die Versorgung mit Strom hingegen blieb mehr als mangelhaft. Besonders dramatisch gestaltete sie sich noch einmal im Winter 1948/1949, also fast vier Jahre nach Kriegsende. Am 29. Oktober 1948 wurde bekannt gegeben, dass "... die Stromversorgung in Nordhessen katastrophal geworden" sei, die "Bevölkerung mit Stromabschaltungen in noch größerem Umfang als bisher rechnen" müsse und "auch tagsüber jederzeit Ganzabschaltungen vorgenommen werden" können. Bis zum Herbst 1949 änderte sich an dieser Situation nur wenig, erst dann kam es zur langersehnte Wende zum Besseren.
"Die Nazis hatten es mit den Vitaminen, die Amerikaner mit den Kalorien, wir wollen endlich was zu Fressen", lautete ein bekannter Nachkriegsslogan. Die Versorgung, auf die hier angespielt wurde, war noch schlechter als im letzten Kriegsjahr und strengste Rationierung weiterhin unumgänglich. Die größte Gruppe der Bevölkerung, besser bekannt unter der bis heute unvergessenen Bezeichnung "Normalverbraucher", erhielt eine Mengenzuteilung, die man heute nur noch aus Fahrplänen für strenge Diäten kennt.
Der Normalverbraucher der 93. Zuteilungsperiode vom 16. September bis 13. Oktober 1946 erhielt für den Zeitraum einer Woche: 1.500 Gramm Brot, 150 Gramm Nährmittel, 3.000 Gramm Kartoffeln, 75 Gramm Fett, 62,5 Gramm Zucker, 250 Gramm Fleisch, 50 Gramm Puddingpulver, 31,25 Gramm Käse, 50 Gramm Kaffee-Ersatz sowie einen Liter entrahmte Frischmilch.
Angstvoll blickte man nun dem Ertrag der Ernte entgegen, die, wenn sie ähnlich schlecht ausfiel wie 1945, auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung auf Besserung verglühen lassen würde. "Die Ernährungslage ist auch weiterhin als sehr ernst zu bezeichnen", vermeldete der polizeiliche Lagebericht vom Juni 1946, um dann ein düsteres Zukunftsbild zu malen. "Durch den in den letzten Wochen anhaltenden Regen ist auch die erhoffte Ernte in Gemüse und Obst nicht ausgefallen, wie es erforderlich wäre. Ebenfalls ist die Heuernte durch die dauernden Regenfälle sehr in Mitleidenschaft gezogen, so dass sich auch dieses im kommenden Winter ungünstig auswirken wird."
Ebenso schlecht wie bei Heu, Gemüse und Obst sah es im Frühherbst des Jahres 1946 allenthalben bei den Kartoffeln aus. Hinzu kam der längste und kälteste Winter seit Menschengedenken, dessen Folgen die Zuteilungsmenge an Lebensmitteln bis Mitte April 1947 auf den bis dato tiefsten Stand absinken ließ. Zur gleichen Zeit gab Ministerpräsident Stock auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die hessischen Lebensmittelvorräte nur noch für 14 Tage reichen würden.
Auf den schneereichen und überaus frostigen Winter folgte ein außergewöhnlich langer, trockener Sommer mit entsprechend niedrigen Ernteerträgen - zusammengenommen Folgen, die einer Naturkatastrophe gleichkamen. "Das Jahr 1947", schreibt ein Chronist, "brachte im Sommer und Herbst eine seit fast 40 Jahren nicht da gewesene Dürre mit sich. In der Zeit von Anfang Juli bis Mitte Oktober sind keine nennenswerten Niederschläge gefallen. Die Weiden sind völlig ausgebrannt, und es macht sich eine unvorstellbare Futterknappheit bemerkbar. Ein erheblicher Teil des Milchviehs muss verkauft und notgeschlachtet werden.
Die Hackfrüchte, die sich sehr gut entwickelt hatten, brachten einen nur geringen Ertrag. Auf Anordnung des Landwirtschaftsamtes Hessen sollen für die Nichtselbstversorger nur 1 Ztr. Kartoffeln zur Einkellerung für den Winter freigegeben werden. Ein großer Teil der Bevölkerung sieht dem Winter 1947/1948 mit noch größerer Besorgnis als dem vorigen Winter entgegen."
Noch bis Mitte 1948 unterlagen fast alle Gebrauchsgüter der Zwangsbewirtschaftung und es fehlte, neben den Lebensmitteln, an Kleidungsstücken aller Art und zahllosen Gütern des täglichen Bedarfs, die, wenn überhaupt, nur mit Bezugsscheinen zu bekommen waren. Die Zuteilung mit Bezugsscheinen war jedoch völlig unzureichend und die Stimmungslage der auf engstem Raum zusammengedrängten Bevölkerung entsprechend.
Zunehmend wertloser wurde auch das Geld und jeder, der es irgendwie konnte, hortete entweder Sachwerte oder tauschte sie bei den unzähligen sogenannten "Hamsterfahrten" auf dem Land gegen Lebensmittel oder auf dem ausufernden Schwarzmarkt ein. Ein Stimmungsbild aus jenen Jahren gibt der damalige Großalmeröder Bürgermeister Carl Thiel.
"Jeder einzelne ist der Überzeugung", schrieb er Mitte 1947, "dass in absehbarer Zeit eine Neuregelung der Währung durchgeführt werden muss, da die gegenwärtigen Verhältnisse auf die Dauer nicht tragbar sind. Industriebetriebe, Kaufleute usw. versuchen vielfach sich dadurch gegen eine Minderung ihres Vermögens zu schützen, dass sie die von ihnen erzeugten Waren zurückhalten, um dadurch einer Abwertung zu entgehen. Man muss daher von einer ausgesprochenen Flucht in die Sachwerte sprechen. Die Folge dieses Verfahrens ist aber, dass trotz aller Ankurbelungsversuche der Produktion die produzierten Waren nicht auf dem Markt erscheinen."
Diese Zustände hatten die Menschen noch bis zum Sommer 1948 zu ertragen, ehe mit der Währungsreform der Grundstein für stabile wirtschaftliche Verhältnisse gelegt wurde. Und so war dann auch der 20. Juni 1948 - es war ein an Werra und Meißner trüber und verregneter Sonntag - ein ganz besonderer Tag. Überall stauten sich die Menschen in langen Schlangen, ein für die damalige Zeit nicht ungewöhnliches Bild. Nur ging es diesmal um kein Sonderangebot auf einen bestimmten Abschnitt der Lebensmittelkarte, sondern es gab das neue Geld, das "Deutsche Mark" hieß und von dem niemand wusste, was es wert sein würde. Jedem standen 60,- Mark zu, zunächst kamen aber nur 40,- Mark zur Auszahlung. Später konnten Reichsmark-Beträge, 1:10 abgewertet, in Deutsche Mark umgetauscht werden, waren aber in der neuen Währung zu versteuern.
Viele Millionen Reichsmark auf den Kundenkonten der Kreissparkassen in Eschwege und Witzenhausen lösten sich praktisch in Luft auf, der Wert der Reichsanleihen sank auf null. Allein die Städte im heutigen Kreisgebiet verloren viele Millionen Mark, waren fast ohne Mittel und mussten neben einer deutlichen Verringerung des Personals zur monatlichen Einziehung von Steuern und Gebühren übergehen. Besitzer von Sachwerten konnten sich glücklich schätzen und der viel beschworene "gleiche Start für alle" stand nur auf dem Papier.
Der Morgen des 21. Juni sah dann in den Innenstädten eine völlig veränderte Schaufensterlandschaft. Ob in Sontra oder Eschwege, Waldkappel oder Großalmerode, Hess. Lichtenau oder Witzenhausen, in den Schaufenstern häuften sich auf einmal die Waren, die man jahrelang vermisst hatte. Die Wirtschaft hatte in Erwartung der Währungsreform Waren gehortet, nun fehlte vielen Menschen das Geld, diese auch zu kaufen. Dennoch stabilisierte die Währungsreform nicht nur den Geldwert und trocknete den Schwarzmarkt binnen Kurzem aus, sondern gab auch den Startschuss für die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und ermöglichte das in den 50er Jahren so viel bestaunte "Wirtschaftswunder".
Auch sonst stellte der Neuanfang den Menschen eine schwierige Aufgabe. Sie mussten einen ebenso schnellen wie gründlichen Wechsel in Verwaltung und Politik verkraften und zugleich die Vergangenheit bewältigen. Das Verhältnis der Besatzungsmacht zur Bevölkerung war klar definiert und konnte als "geschäftsmäßig korrekt" bezeichnet werden. Zwischenmenschliche Kontakte untersagte das sogenannte "Fraternisierungsverbot", das nur auf dem "Schwarzen Markt" und in der Liebe durchbrochen wurde. Übergriffe waren selten, kamen aber vor.
Weitaus schwieriger gestaltete sich die sogenannte "Entnazifizierung", die auf der Grundlage des im März 1946 verabschiedeten "Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" mittels sogenannten "Spruchkammern" durchgeführt wurde. Demnach musste jeder Deutsche einen Meldebogen ausfüllen und dort Angaben zu seinem Lebensweg während des "Dritten Reiches" machen. Die Spruchkammer entschied dann über die Einstufung des einzelnen in eine der fünf Kategorien, die sich in Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete aufteilten.
Grundsätzlich muss angemerkt werden, dass das schematische Verfahren viel zu viele betraf und den individuellen Lebenswegen nicht gerecht werden konnte. Die Kritik von deutscher Seite richtete sich vor allem gegen den Umfang.
So mussten für den Kreis Eschwege im Juni 1946 insgesamt 42.347 und für den Kreis Witzenhausen rund 39.000 Fragebögen bearbeitet werden, denn die NS-Führer und Aktivisten - die man eigentlich hatte erfassen und bestrafen wollen - gingen in der Masse unter.
Das Resultat dieser "Entnazifizierung" war ernüchternd. Als im April 1948 die Spruchkammer Witzenhausen ihrer Arbeit beendete, waren insgesamt 14.239 Personen vom Befreiungsgesetz betroffen gewesen. Davon wurden 11.088 Fälle aufgrund der Jugend- und Weihnachtsamnestie 1947 als erledigt zu den Akten gelegt und lediglich 1.441 Fälle noch verhandelt. Von diesen galten 22 als entlastet und 1.146 als Mitläufer, 251 waren Minderbelastete, 21 Belastete und lediglich ein einziger wurde als Hauptschuldiger verurteilt.
Beispielhaft für das gesamte Procedere mag das Verfahren gegen Dr. Gerber, den Landrat des Kreises Witzenhausen stehen, das die Hessischen Nachrichten am 27. Juni 1946 wie folgt kommentierten: "Es ist nun heute so, daß getreu den Vorbildern auf der Nürnberger Anklagebank keiner etwas getan haben will. Jeder ist unschuldig wie ein neugeborenes Lamm und wenn er wirklich, ja dann (...) hat er eben auf Befehl gehandelt, und wenn er diesen Befehl nicht befolgt hätte, wäre er ja selbst ins KZ gekommen. Man sollte es kaum glauben, daß das Hitlerregime so viel Gegner gehabt haben soll."
Betrachtet man in diesem Zusammenhang die politische Entwicklung der beiden Landkreise bis zur Bildung des Werra-Meißner-Kreises, so fällt als erstes die dominierende Rolle der SPD ins Auge, die sowohl in Eschwege als auch Witzenhausen zur maßgeblichen politischen Kraft wurde. Allerdings war diese Rolle im Altkreis Witzenhausen deutlich ausgeprägter - hier gelangen den Sozialdemokraten, mit Ausnahme der Kommunalwahl vom 25. April 1948, bei allen Kreistagswahlen bis 1972 Ergebnisse weit jenseits der 50 %-Marke und mit Wilhelm Brübach stellten sie vom 1. Juli 1946 bis zum 31. Dezember 1973 auch den Landrat.
Etwas differenzierter stellte sich die politische Situation im Landkreis Eschwege dar. Zwar war die SPD auch hier ab 1956 die stärkste Partei mit Ergebnissen von 50 % + x und stellte mit Eitel O. Höhne seit dem März 1961 auch den Landrat, aber bis zur Kommunalwahl des Jahres 1956 war das politische Terrain doch deutlich vielschichtiger als bei den Witzenhäuser Nachbarn.
Bei den Kommunalwahlen 1948 wurden die Sozialdemokraten mit 37,7 % hinter der LDP nur zweitstärkste politische Kraft und auch das Ergebnis der Kreistagswahlen des Jahres 1952 sah die SPD nur bei etwas mehr als 40 %. Die Wahlen 1960 und 1964 fanden ohne politische Beteiligung der CDU statt und das daraus entstandene politische Vakuum wurde durch eine starke "Überparteiliche Wählergemeinschaft" (ÜWG) und die FDP ausgefüllt.
Diese doch etwas andere politische Gemengelage macht es auch erklärlich, dass in den fünfzehn Jahren bis zum Amtsantritt Eitel Höhnes fünf Landräte im Eschweger Schloss residierten: Neben Wolfgang Hartdegen und Dr. Friedrich Alfred Busse, die als Männer der ersten Stunde ohne Mandat der Wähler bis zum Februar 1946 amtierten, noch der Sozialdemokrat Johannes Braunholz (1.7.1946-30.6.1948), Gerhard Pforr von der LDP (1.7.1948-30.6.1954) und schließlich Hansjochen Kubitz (BHE), dessen Amtszeit vom 5. Juli 1954 bis 15. Dezember 1960 dauerte.
Alle diese Männer und die sie tragenden Parteien gingen nach der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949, der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag am 14. August 1949 gemeinsam den langen Weg der Westintegration, die den jungen deutschen Staat schließlich wieder zu einem gleichberechtigten Mitglied der internationalen Völkergemeinschaft machte.
Die Deutsche Teilung bringt die Region in eine Randlage
Ein bitterer Wermutstropfen blieb allerdings erhalten und erinnerte sichtbar an das Unrecht, das in deutschem Namen von deutschem Boden ausgegangen war: Die "Deutsche Teilung" und der immer undurchdringlicher werdende "Eiserne Vorhang". Insbesondere die Menschen in den sogenannten "Zonenrandgebieten", zu denen auch die Kreise Eschwege und Witzenhausen gehörten, wurden tagtäglich damit konfrontiert.
Ihren Ursprung hatte diese Grenze in den sogenannten "Zonengrenzen", welche die vier Besatzungszonen der unmittelbaren Nachkriegszeit voneinander trennten. Dabei lief die Grenzziehung nicht immer reibungslos und - wie auch in unserer Region geschehen - musste mitunter nachgebessert werden.
Das ehemalige Kurhessen bzw. die Provinz Hessen-Nassau gehörten zur amerikanischen Zone und mit ihnen auch die Kreise Eschwege und Witzenhausen. Allerdings lief die für die Amerikaner wichtige Nord-Süd-Eisenbahnverbindung von Bremen über Hannover, Göttingen und Eichenberg bis Bebra nicht nur durch britisches Besatzungsgebiet, sondern im Raum Neuseesen/Werleshausen auf einer Länge von drei Kilometern auch durch die sowjetische Zone.
Diese Bahnlinie - vom Volksmund in Anspielung auf die Trinkgewohnheiten der beiden Besatzungsmächte "Whisky-Wodka-Linie" genannt - war ein dauernder Konfliktherd, der erst durch das sogenannte "Wanfrieder Abkommen" vom 17. September 1945 beseitigt werden konnte.
Die Verhandlungen zwischen den beiden Delegationen fanden u. a. im Keudelschen Schloss und im schwer bewachten damaligen Hotel Rexrodt (Ecke Martinsgasse/Kirchstraße) statt. Man einigte sich schließlich auf einen Gebietstausch, der die ehemaligen hessischen Dörfer Asbach, Sickenberg, Vatterode und Weidenbach/Hennigerode mit 429 Einwohnern und einer Fläche von 761 ha der sowjetischen und die ehemals thüringischen Orte Neuseesen und Werleshausen mit 560 Einwohnern und 845 ha Fläche der amerikanischen Zone zuordnete: Die Bahnlinie verlief nun vollständig durch amerikanisches Gebiet.
Die Grenze hatte nun ihren endgültigen Verlauf erhalten, war aber in den ersten Jahren nach dem Krieg noch unbefestigt und wurde landläufig auch als "Grüne Grenze" bezeichnet. Bewacht wurde sie zunächst von Angehörigen der Roten Armee, später übernahm diese Aufgabe dann die sogenannte "Kasernierte Volkspolizei", im westdeutschen Sprachgebrauch kurz "Vopo" genannt.
Wenn auch die Demarkationslinie entlang dem späteren Werra-Meißner-Kreis zwischen Eichenberg im Norden und Herleshausen im Süden noch überwindbar war, kannten weder Russen noch Vopos Pardon, wenn sie Grenzgänger erwischten. Mitunter wurde auch scharf geschossen und selbst Todesfälle sind aus jener Zeit dokumentiert.
Zeitzeugen aus Neuseesen erinnern sich, dass das Klima zwischen Ost und West in den frühen 50er Jahren aber noch ziemlich moderat war und es immer wieder auch einen "kleinen Grenzverkehr" gab: Vopos besuchten in den Grenzorten die kleinen Läden, um Zigaretten und Bier zu kaufen und feierten mancherorts sogar die Kirmes mit.
Das änderte sich schlagartig mit dem 13. August 1961, denn nach dem Bau der Berliner Mauer wurde auch die innerdeutsche Grenze befestigt, vermint und immer mehr zu einer undurchdringlichen Todeslinie perfektioniert. Zwischenfälle mit sogenannten "Republikflüchtlingen" gab es nun häufiger: Mal wurden Flüchtlinge beschossen, als sie versuchten die Werra zu durchschwimmen, mal wurden sie von Bodenminen verletzt oder sogar getötet.
Für die Sicherheit auf bundesdeutscher Seite waren in der Region der Bundesgrenzschutz in Eschwege und der Zollgrenzdienst zuständig. Dabei war der Zoll durch seine Kommissariate in Netra, Wanfried und Witzenhausen näher dran und vermittelte der Bevölkerung ein Gefühl der Sicherheit. Viele der eigens für die Zollbediensteten gebauten Wohnblocks - so in Witzenhausen in der Straße Auf den Hecken - stehen in den früheren Grenzorten heute noch.
Besonders menschenverachtend am Sperrsystem der DDR waren die Splitterminen (SM 70), die beim Berühren der Kontaktdrähte detonierten und ihre Opfer schwer verletzten. Unvermittelt wurde diese Technik dann ab Herbst 1983 abgebaut, mutmaßlich als Folge eines Milliardenkredites, den Franz-Josef Strauss, der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende, der DDR vermittelt hatte.
Zwischen Hessen und Thüringen starben an der Innerdeutschen Grenze sechsundzwanzig Menschen bei Fluchtversuchen, mutmaßlich letztes Grenzopfer dürfte am 30. März 1982 Heinz-Josef Große (35) aus Thalwenden gewesen sein. Ihn trennten nur noch wenige Meter von westdeutschem Boden, als er bei Sickenberg von Kugeln der DDR-Grenzposten niedergestreckt wurde.
Abgesehen von diesen unmenschlichen Begleitumständen und dem mit dem oft zitierten "gesunden Menschenverstand" nur sehr schwer zu begreifendem Umstand, dass eine Urlaubsreise ins sonnige Italien leichter zu unternehmen war, als der Besuch eines Allendörfers bei den Bekannten im drei Kilometer entfernten Wahlhausen oder eines Altenburschlaers im nur den berühmten "Katzensprung" entfernten Großburschla, bedeutete die "innerdeutsche Grenze" für unsere Region einen jahrzehntelangen wirtschaftlichen Hemmschuh und die ebenso lange Abhängigkeit von staatlichen Fördertöpfen.
Um die tatsächliche Dimension dieser Problematik deutlich zu machen, genügt ein kurzer Blick auf die geographische Lage beider Kreise: Von den insgesamt 195 km der Eschweger Kreisgrenze waren fast die Hälfte (95 km) gleichzeitig schwer bewachte Zonengrenze, der Kreis Witzenhausen teilte dieses Los auf insgesamt 24,5 km.
Neben der menschlichen Tragik dieses nach dem 13. August schier undurchdringlich gewordenen "Eisernen Vorhangs" besaß die widernatürliche Grenzziehung durch die ehemalige Mitte Deutschlands noch eine erhebliche wirtschaftliche Problematik, die die Entwicklung beider Kreise - wenn auch in unterschiedlicher Schwere - nachhaltig beeinträchtigte.
Zum einen wurde der historisch gewachsene hessisch-thüringische Wirtschaftsraum auseinander gerissen - nicht umsonst waren die Kreise Mühlhausen, Heiligenstadt, Worbis und Schmalkalden als Teil der gemeinsamen Industrie- und Handelskammer Kassel/Mühlhausen integraler Bestandteil unserer Wirtschaftsregion - zum anderen hatte die plötzliche Randlage zum westlichen Wirtschaftsraum schwerwiegende Strukturnachteile zur Folge. Durch die Grenzziehung waren sowohl die frühere geographische Mittelpunktfunktion innerhalb Deutschlands als auch wichtige Beziehungen in den ostdeutschen Raum sowie nach Mittel- und Osteuropa zerschnitten worden.
Zusätzlich zu diesen eher übergeordneten ökonomische Faktoren hatten viele kleine und mittlere heimische Unternehmen wichtige Absatzgebiete verloren. Dies galt im Bereich des Kreises Witzenhausen insbesondere für den nördlichen Teil mit den Städten Witzenhausen und Bad Sooden-Allendorf, denen mit dem benachbarten Eichsfeld nun ein wichtiger Teil ihrer traditionellen Absatzmärkte weggebrochen war.
Ähnlich, nur ungleich gravierender, gestaltete sich die Situation im Kreis Eschwege. Hier waren die ökonomischen Verflechtungen nach Thüringen traditionell noch stärker als im Kreis Witzenhausen, der in seinem südlichen, vornehmlich industriell geprägten Teil stark in den Kasseler Raum orientiert war.
Die Folge war eine außergewöhnlich hohe Zahl an Arbeitslosen, wie die "Hessischen Nachrichten" am 6. Februar 1950 melden mussten: "Die Zahl der Arbeitslosen für den Bezirk Witzenhausen wird für Januar mit 2.809 gegenüber 2.172 im Dezember angegeben, wobei für den Bereich Witzenhausen 17,5 % Arbeitslose gemeldet sind. Den Höchstdurchschnitt an Arbeitslosen meldet Eschwege mit 30,5 %."
Zonenrandförderung und "Großer Hessenplan" sollen Lebensverhältnisse verbessern
Bereits seit Mitte der 50er Jahre wurden deshalb verstärkt staatliche Fördermittel für Investitionen in der Region bereitgestellt, so dass sich die Zahl der Beschäftigten im Landkreis Eschwege von 16.000 im Jahr 1951 auf 22.520 im Jahr 1966 erhöhte - und das trotz der Stilllegung des Kupferschieferbergbaus in Sontra. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Firma Massey-Ferguson genannt werden, die ab 1952 auf dem sogenannten "Eschweger Flugplatz" angesiedelt wurde und in Spitzenzeiten bis zu 2.500 Mitarbeiter beschäftigte.
Die andere Kreisstadt Witzenhausen, der seit 1965 im "Großen Hessenplan" die Funktion eines "gewerblichen Schwerpunktortes sowie einer Wohn- u. Fremdenverkehrsgemeinde" zugedacht worden war, erhielt zudem als Bundesausbau und Sonderförderungsort seit Ende der 60er Jahre erhebliche Mittel zur Strukturverbesserung und Schaffung von Arbeitsplätzen. "Einen breiten Raum", lautete bereits die zentrale Aussage des Verwaltungsberichtes der Stadt für die Jahre 1964-1968, "haben alle Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung eingenommen. Hier stand an erster Stelle die Stützung der heimischen Wirtschaft."
Dies galt natürlich nicht nur für die beiden Kreisstädte, sondern auch für die gesamte Region, die als Kompensation für die aus der Randlage resultierenden strukturellen Nachteile seit 1971 von der Bundesregierung die sogenannte "Zonenrandförderung" erhielt. Mit Subventionen und günstigen Abschreibungsbedingungen in Verbindung mit einem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau sollten die Standortattraktivität verbessert und Investitionsanreize geschaffen werden.
So ließ sich seit Mitte der 60er auch im strukturschwachen Zonenrandgebiet endlich von Vollbeschäftigung sprechen und bald musste im Land an Werra und Meißner, um den Produktionsprozess aufrecht zu erhalten, verstärkt auf sogenannte "Gastarbeiter" aus Südeuropa zurückgegriffen werden. Insbesondere wurden diese Arbeitnehmer in der Zigarrenindustrie benötigt, die, neben Möbel, Textil und Papierherstellung, den industriellen Kern im Raum Witzenhausen bildete.
Zusammen mit der Ton-, Schamotte- und Schmelztiegelherstellung im Raum Großalmerode, dem Braukohlebergbau am Hirschberg und auf dem Meißner, der Textil- und Möbelherstellung in Hess. Lichtenau und den vielfältigen kleineren Handwerks- und Gewerbetrieben waren Ende der 60er etwa 20.000 Menschen - mehr als ein Drittel der Einwohner des Kreises - in Industrie und Gewerbe beschäftigt.
Deutlich weniger industrialisiert war der Kreis Eschwege, dessen gewerblicher Schwerpunkt im Bereich der Metallindustrie lag. Hinzu kamen Textilbetriebe, pharmazeutische Industrie, Steine und Erden, Bauindustrie, Schmelztiegel sowie Betriebe im Bereich Nahrungs- und Genussmittel. Insgesamt waren damals rund 12.000 Arbeiternehmer in der Industrie und noch einmal ca. 5.000 in rund 1.000 Handwerksbetrieben beschäftigt.
Einen wesentlich höheren Stellenwert als heute besaß damals die Landwirtschaft, die, zumindest im Landkreis Eschwege, einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellte. Laut einer Statistik aus dem Jahr 1966 umfasste der Kreis Eschwege insgesamt eine Fläche von 50.000 ha, von denen 24.000 ha landwirtschaftlich und 18.000 ha forstwirtschaftlich genutzt wurden. Die Struktur war kleinteilig und von den rund 3.900 Betrieben bewirtschafteten etwas mehr als 2.700 eine Betriebsfläche von maximal fünf Hektar. Nur rund 1.000 Betriebe hatten bis zu zwanzig Hektar und lediglich 20-50 ha unterm Pflug. Ganze 33 Landwirte nannten im Kreis Eschwege fünfzig Hektar und mehr ihr eigen - die von ihnen genutzten rund 4.100 ha waren allerdings fast ebenso groß wie die Fläche der 2.700 Kleinbauern und Nebenerwerbslandwirte.
Ähnlich strukturiert war die Landwirtschaft im Kreis Witzenhausen, wo fünfzehn landwirtschaftliche Großbetriebe über 54 % der Anbaufläche verfügten. Die anderen 46 % der Fläche wurden von 90 % der Betriebe bewirtschaftet, und dies in der Regel im Nebenerwerb. Größere Bedeutung besaß im Kreis Witzenhausen noch der Obstbau - insbesondere der Kirschenanbau wurde in den 60er und 70er Jahren im Werratal deutlich intensiviert.
Zukunftsträchtig erschien in beiden Landkreisen der Ausbau des Fremdenverkehrs, der sowohl über die Schiene örtlicher Heimat- und Verkehrsvereine als auch durch kreisweite Zusammenschlüsse wie dem 1961 gegründeten Fremdenverkehrsverein "Werra-Meißner-Kaufunger-Wald e. V." vorangetrieben wurde.
Besonders erfolgreich zeigten sich - neben der Kurstadt Bad Sooden-Allendorf als unbestrittenem Zentrum des heimischen Fremdenverkehrs - die Städte Witzenhausen und Großalmerode sowie die Gemeinde Ziegenhagen, die schon seit 1957 staatlich anerkannter "Luftkurort" war und 1969 noch zusätzlich das Prädikat "Kneipp-Kurort" erhielt.
Eine ähnliche Entwicklung war im Landkreis Eschwege zu beobachten. Hier lag der Schwerpunkt der Aktivitäten hauptsächlich bei den insgesamt elf Heimat- und Verkehrsvereinen, die, angefangen beim "Verkehrs- und Verschönerungsverein Eschwege", über den Meißner, die "Hessische Schweiz", den Ringgau bis hin nach Herleshausen, das gesamte Kreisgebiet touristisch betreuten. Dass diese in der Regel ehrenamtlichen Aktivitäten durchaus erfolgreich waren, zeigt die Verdreifachung der Übernachtungszahlen von 52.000 im Jahr 1957 auf 154.000 Ende 1965.
Eine ganz wichtige Einzelmaßnahme war in diesem Zusammenhang am 16. Februar 1962 die Schaffung des Naturparks "Meißner-Kaufunger-Wald" durch die Landkreise Eschwege, Kassel und Witzenhausen.
Im großräumigen Gebiet von Meißner und Kaufunger Wald wollte man mit dem Ausbau des Parks mehrere "Fliegen mit einer Klappe" schlagen. Einerseits sollten Naturlandschaft, Tier- und Pflanzenwelt geschützt und der heimischen Bevölkerung gleichzeitig lärmfreie Erholungsgebiete erschlossen werden. Andererseits war dem Naturpark langfristig eine wichtige Rolle in der touristischen Vermarktung der Region zugedacht. Und so begann man mit einem dichten Netz an Wanderwegen, Parkplätzen und Ruhemöglichkeiten die notwendige Infrastruktur zu schaffen.
Die Schaffung moderner Infrastruktur war ganz allgemein ein zentrales Anliegen jener Jahre. Immer problematischer gestalteten sich Ausbau und Zustand des heimischen Straßennetzes, das, teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert stammend, für den modernen und zudem rapide wachsenden Kraftfahrzeugverkehr nicht ausgelegt war. Dies betraf die Bundes- und Kreisstraßen ebenso wie die teilweise gefährlich engen und verwinkelten Ortsdurchfahrten.
Eine große Bedeutung für die Mobilität besaß damals noch der Schienennahverkehr, und beide Landkreise wiesen ein engmaschiges Schienennetz auf. Den Kreis Witzenhausen durchzogen die Bahnlinien Göttingen - Kassel bzw. Göttingen - Bebra mit dem Bahnhof Eichenberg als Drehkreuz. Von dort zweigte auch die sogenannte "Gelstertalbahn" ab, die über Großalmerode, Walburg und Hess. Lichtenau nach Kassel führte.
Die Fernverbindung Göttingen - Bebra verband auch den Kreis Eschwege mit dem Fernverkehr. Darüber hinaus gab es von Eschwege noch Bahnlinien nach Wanfried, über Waldkappel und Hess. Lichtenau nach Kassel sowie über Waldkappel und Spangenberg nach Treysa. Moderne Infrastruktur bedeutete vor allem auch die Anpassung der allgemeinen Lebensbedingungen an die Standards des 20. Jahrhunderts. So nutzte Witzenhausen z. B. bis 1962 noch das alte Abwassersystem aus dem Jahr 1902 und musste von 1962-1968 mit Millionenaufwand - die Stadt sprach damals von einem "Jahrhundertprojekt" - das gesamte Kanalnetz erneuern. Eschwege war da schon weiter, aber auch dort standen in den 60er Jahren aufwändige und kostspielige Erweiterungen und Modernisierungen der Kanalisation auf der Tagesordnung. Kanal, Strom, Wasser - all diese unverzichtbaren Bestandteile des täglichen Lebens mussten entweder modernisiert oder gänzlich neu eingerichtet werden.
Einen ganz wichtigen Bestandteil bürgernaher Grundversorgung bildete auch damals schon das Gesundheitswesen. Beide Kreise gewährleisteten die medizinische Grundversorgung ihrer Bürger durch eigene Krankenhäuser: Der Kreis Eschwege als alleiniger Träger, der Kreis Witzenhausen seit 1950 gemeinsam mit der Stadt Witzenhausen im "Zweckverband Kreis- und Stadtkrankenhaus Witzenhausen". Immer wieder baulich modernisiert - in Witzenhausen 1952, in Eschwege 1968 - und medizinisch auf den neuesten Stand gebracht, konnten beide Krankenhäuser eine hohen medizinische Qualität aufweisen und waren damals schon als Standortfaktoren unverzichtbar.
Erklärtes politisches Ziel der damaligen hessischen Landesregierung war der Versuch, größtmögliche Chancengleichheit im Bildungsbereich zu erreichen. Dies konnte natürlich nicht mit den traditionellen Dorfschulen geschehen, deren teilweise noch eingleisiges System - alle Jahrgangsstufen wurden in einem Raum unterrichtet - den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft nicht gerecht wurde.
Dies zu ändern war vordringliches Ziel auch der politisch Verantwortlichen in unserer Region, und so entstand mit der Ernst-Reuter-Schule auf der grünen Wiese zwischen Eichenberg-Berge und Hebenshausen Ende der 50er Jahre eine der ersten sogenannten "Mittelpunktschulen" Deutschlands. Damit wurde ein deutliches bildungspolitisches Signal gesetzt und in den frühen sechziger Jahren konnte der Bau von Mittelpunktschulen u. a. in Grebendorf, Herleshausen, Hundelshausen, Nesselröden, Rommerode, Waldkappel, Wanfried und Walburg vehement vorangetrieben werden.
Realschulen bzw. Realschulzweige fanden sich in beiden Landkreisen nahezu flächendeckend, Höhere Schulen gab es in Bad Sooden-Allendorf, Eschwege und Hess. Lichtenau, eine der ersten "Gesamtschulen" seit 1968 in Witzenhausen.
In Witzenhausen als traditionellem Standort landwirtschaftlicher Ausbildung, entstand 1963 mit der "Deutschen Landmaschinenschule", kurz DEULA, eine moderne landwirtschaftliche Bildungseinrichtung von überregionaler Ausstrahlung. Hinzu kam mit dem "Seminar für ländliche Entwicklungshilfe" ein völlig neues Bildungsangebot, das die Kreisstadt zu einem landwirtschaftlichen Ausbildungszentrum von Rang werden ließ.
Den zwischenzeitlichen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Einbindung der Witzenhäuser Ingenieurschulen als Fachbereiche in die neue Gesamthochschule Kassel: Mit dem Beginn des Wintersemesters 1971/1972 nahm die GHK mit 300 Studenten auch in Witzenhausen ihren Lehrbetrieb auf - die Kirschenstadt hatte Eingang gefunden in den elitären Kreis der deutschen Universitätsstädte.