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100 Jahre Stadtmuseum im ehemaligen Zucht- und Waisenhaus Gera

Wie die Zeiten sich ändern! Als das alte Zucht- und Waisenhaus nach jahrelangem Umbau am 12. April 1914 seine Türen als Städtisches Museum öffnete, war Gera noch die Hauptstadt des Fürstentums Reuß jüngerer Linie. Als erster Besucher kam am Vortag der Landesherr Heinrich XXVII. selbst, der, wie die Geraer Zeitung schreibt, über zwei Stunden im Museum verweilte und dabei seiner Anerkennung für das Geleistete lebhaften Ausdruck gab.

Das Gebäude konnte zu diesem Zeitpunkt schon auf annähernd 200 Jahre Geschichte zurückblicken. Zwischen 1724 und 1738 erbaut, diente es bis etwa 1850 der Unterbringung von Sträflingen, Waisenkindern und geistig Behinderten, in den folgenden Jahrzehnten wurde es für verschiedene gewerbliche und kommunale Zwecke genutzt. Erhalt oder Abriss? Um 1900 wurde das Gebäude zunehmend als Verkehrshindernis empfunden, es entbrannte ein regelrechter "Zeitungskampf" der widerstreitenden Meinungen. Die Idee, das Haus komplett für Museumszwecke auszubauen, trug schließlich den Sieg davon. Der Um- und Ausbau zwischen 1911 und 1913 beseitigte im Inneren weitestgehend die Strukturen des alten Waisenhauses.

Das Geraer Städtische Museum existierte als Institution bereits seit 1878. Das rasche Anwachsen der Sammlung bedingte zunächst einen häufigen Ortswechsel: ein Raum in der Enzianschule, ab 1883 im Hintergebäude des städtischen Marstalls, ab 1897 schließlich in einer Etage des Zucht- und Waisenhauses. Die Sammlung betreute anfangs der Geraer Kaufmann Robert Eisel, nach ihm der Lehrer Alfred Auerbach, zunächst im Nebenamt, ab 1924 hauptberuflich als Direktor des Museums. Nachfolger Auerbachs wurde 1939 Dr. Kurt Degen. Im gleichen Jahr erhielt das Haus den Namen Osterlandmuseum, eine sicher politisch motivierte Umbenennung, mit der "die Erinnerung an einen schicksalsvollen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte" wach gehalten werden sollte, aber auch daraus resultierend, dass das Museum über den Status eines Heimatmuseums hinaus gewachsen war und sich als Regionalmuseum verstand.

Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges beendeten 1945 auf schreckliche Weise die kurze Existenz des "Osterland"-Museums. Beim schwersten alliierten Luftangriff auf Gera am 6. April 1945 ergriff das Feuer von brennenden Nachbargebäuden auch den Dachstuhl des Museums. Das Dach und schließlich auch der Turm verbrannten, ebenso der größte Teil der im dritten und im zweiten Obergeschoss befindlichen Objekte. Noch während des Brandes wurden Bergungsarbeiten durchgeführt, gerettete Objekte in die Gaststätte Stadtgarten (Comma) und in ein Haus am Stadtgraben ausgelagert. Das Haus bot in den Folgejahren einen traurigen Anblick: der Dachstuhl zerstört, das zweite und dritte Obergeschoss ausgebrannt, Scheiben, Türen und Fensterrahmen schwer beschädigt. Wasser drang allmählich bis in den Keller vor.

Als Zwischenlösung konnte das Städtische Museum 1950 im Schreiberschen Haus auf dem Nicolaiberg wieder eröffnet werden. Gleichzeitig war der Wiederaufbau des alten Waisenhauses im Gange. Im Herbst 1951 wurde Richtfest gefeiert, 1953 war das Äußere des Hauses wieder hergestellt, der Innenausbau endete 1956. Am 1. Mai 1957 öffnete das Gebäude wieder als Museum für Kulturgeschichte. Damit vollzog sich auch eine 1953 beschlossene örtliche Trennung von Natur- und Stadtgeschichte. Während die Stadt- bzw. Kulturgeschichte wieder ihre alte Örtlichkeit bezog, verblieb die naturkundliche Sammlung fortan im Schreiberschen Haus.

Die Direktoren des Museums wechselten in jenen Jahren mehrfach. Dr. Kurt Degen war als Mitglied der NSDAP nach dem Krieg nicht mehr tragbar. Sein Nachfolger wurde 1947 Dr. H. R. Oehlhey, nachdem Oberlehrer Hemmann das Museum zwei Jahre kommissarisch geleitet hatte. Oehlhey starb 1953, auf ihn folgte Clement Toepel als neuer Leiter.

Mit dem Rückzug ins alte Haus begann für das Museum eine Phase umfassender Politisierung. Als Kultureinrichtung einer Bezirkshauptstadt erhielt das Haus den Status eines Bezirksmuseums. Sozialistische Großbetriebe wie das Chemiefaserwerk Schwarza, die Keramischen Werke Hermsdorf und die Maxhütte Unterwellenborn fanden sich in den Ausstellungen ebenso wie der antifaschistische Widerstandskampf in Jena und Eisenberg, die Freundschaft zur Sowjetunion oder der deutsche Bauernkrieg, die "frühbürgerliche revolutionäre Massenerhebung" von 1525. Die Stadtgeschichte konzentrierte sich auf Arbeiter- und Klassenkampf. Im Jahr 1969 erfuhr das Gebäude eine Dachinstandsetzung und eine Neugestaltung der Fassade. Der teilweise rote Anstrich prägte das Stadtbild bis 2002.

Eine vorsichtige kulturelle Liberalisierung in der DDR in den 1980er Jahren ermöglichte auch dem Stadtmuseum eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen städtischen Vergangenheit. Mit der Eröffnung des ersten Teils (Stadtgeschichte bis 1789) einer neuen Dauerausstellung gelang 1987 die Umsetzung einer bemerkenswert sachlichen und modernen Konzeption. Dieser und noch zwei folgende Ausstellungsteile konnten - ohne Brüche durch die Wendezeit - bis 2002 gezeigt werden. Langjähriger Leiter des Museums wurde ab 1978 Siegfried Mues, der bereits seit August 1961 als wissenschaftlicher Assistent im Haus tätig war.

Salpeterablagerungen in den Wänden, unzureichende Sanitäranlagen, veraltete oder fehlende Lagertechnik - in den 1990er Jahren wurden die baulichen Mängel des Hauses immer gravierender. Im Jahr 2001 begann mit der Dacherneuerung eine Komplettsanierung des Museums. Voraussetzung dafür war zunächst die Beräumung der Dachgeschosse und bis Juni 2002 des gesamten Gebäudes. Für die Sammlungen, Ausstellungsobjekte und Büros mussten Ausweichquartiere gefunden und bezogen werden. Im Sommer 2004, nach Sanierungsende, zog die Karawane zurück ins Haus, ein Jahr später konnte mit der Ausstellung "Stromauf. Das moderne Gera zwischen 1900 und 1930" das Haus wieder eröffnet werden. Die konzeptionellen Arbeiten der Sanierung begannen unter dem bis 1999 tätigen Leiter Siegfried Mues, realisiert wurde sie unter dem ab April 2000 tätigen Leiter Dr. Martin Müller. Nur drei Jahre später verließ Dr. Müller Gera wieder und ging nach Xanten, von 2004 bis zu ihrem plötzlichen Tod im Februar 2013 leitete Ute Heckmann das Stadtmuseum.

Das auffälligste äußere Merkmal des verjüngten Museums bildet die zweiflügelige Freitreppe, die der historischen, 1895 abgebrochenen Treppe nachempfunden ist. Die Innenausstattung des Hauses ist durch den Stadtbrand von 1780, den Umbau 1914 und das Kriegsende 1945 mehrfach zerstört bzw. umgestaltet worden, so dass aus der Erbauungszeit nur im Keller wenige Fragmente erhalten sind. Die Räume zeigen sich daher in modernem Ambiente und gestatten ein hohes Maß an Flexibilität bei Veranstaltungen und der Vorbereitung und Gestaltung von Ausstellungen.

Das Stadtmuseum ist, wie der Titel der aktuellen Sonderausstellung lautet, ein "Schatzhaus der Geraer Geschichte". Es bietet, genau wie die anderen Museen der Stadt, was kein Bildschirm oder Foto bieten kann: den Blick aufs jahrhundertealte Original, den Kontakt zum authentischen Objekt, und damit Wissen und einmalige Unterhaltung.
Matthias Wagner